Schroders Schweigen
Spirituosenladen und Dunkin’ Donuts dazu. Nach einigen wütenden Telefonaten wandte sich mein letzter verbliebener Kunde – ein Yogameister auf der Suche nach Geschäftsräumen – an einen anderen Makler.
Dann kam der Mai. Eines Morgens verließ ich das Haus und ging einfach los. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß nach New Scotland und bis ins Zentrum, und ein paar Stunden später stand ich plötzlich vor dem New York State Museum. Mit seiner kopflastigen modernen Architektur und Hunderten von joggbaren Stufen, die zu einem monumentalen Arkadengang hinaufführen, ist das Gebäude schwer zu verfehlen. Von dort aus hat man eine klare Sicht auf alle vier Bergketten, die die Region der Hauptstadt umgeben: die Adirondacks, die Green Mountains, die White Mountains und die Berkshires. Überall hier oben ist man von Bergen umgeben.
Ich war nicht hergekommen, um mir die Berge anzusehen. Es war eher eine Pilgerfahrt. Mein persönliches Lourdes. Weil das der Ort war, an dem Meadow und ich während meines Elternjahrs so viele Tage verbracht hatten. Das Jahr, in dem sie drei war. Das Jahr, in dem sie lesen lernte (und Flötespielen, Walzertanzen, das Periodensystem und ganz passables Deutsch). Während dieses langen nördlichen Winters waren wir fast jeden Tag in der Bibliothek. Ich nahm mir meine Unterlagen mit (anscheinend habe ich noch immer keine Lust, über mein Forschungsprojekt zu reden), und sie setzte sich mit Wachsmalstiften oder einem Stapel Bücher auf den Teppich neben mich, und so verbrachten wir viele gesellige Stunden. Irgendwann zupfte sie an meinem Hosenbein, und dann wusste ich, dass es Zeit war für einen Besuch beim Karussell.
Welches Karussell? Die Bürger unserer Partnerstadt Ypern hatten es 1935 den Bürgern von Albany geschenkt. All seine Spiegel waren noch intakt, auch die ohrenbetäubende Orgel war noch an ihrem Platz, und so fand das Karussell in den Siebzigern seinen Weg ins New York State Museum. Mit seinen stolzen sechsunddreißig Pferden, zwei Rehen, zwei Eseln und einem Affen ist es einen Besuch wert, wenn man in der Stadt ist.
An jenem Tag, als ich allein zum Karussell ging, fiel mir unwillkürlich auf, dass die Leute in der Schlange vom selben Schlag waren wie damals, als Meadow und ich dort standen – junge Eltern, die zerstreut ihre Babys auf dem Arm schaukelten, Kleinkinder mit der Stirn zwischen den Stangen. Ich sann darüber nach, dass die Kinder eigentlich viel zu jung waren, um wertschätzen zu können, was sie da gerade erlebten, nämlich dass ihr Geist durch jeden Geruch, jede Berührung, jedes Geräusch geprägt wurde und dass sie von dieser Prägung für den Rest ihres Lebens zehren würden. Auf diese Weise, überlegte ich, wird die Welt für immer auf unsere Nervenenden wirken.
»Wie alt?«, fragte ich die junge Mutter neben mir.
Die Mutter sah von ihrem Baby hoch. »Acht Monate«, sagte sie.
»Sehr niedlich.« Ich deutete hin. »Ist das ein Zahn?«
Die junge Frau öffnete dem Kind mit dem Zeigefinger den Mund und wischte einmal drüber. Das Baby machte große Augen. »Nö. Keine Ahnung, was das ist.« Sie zupfte den winzigen Pullover zurecht.
»Jedenfalls«, sagte ich, »ein süßer kleiner Kerl.«
»Ja, oder?« Sie strahlte und sah dabei unerklärlich schön aus.
Meadows Lieblingspferd auf dem Karussell war ein Rappe mit goldenem Sattel – das Außenpferd. Unzählige Male hatte ich danebengestanden. Bei ihrer ersten Karussellfahrt war sie kugelrund und hatte noch ihren Babyspeck. Doch jedes Mal, wenn wir wieder Karussell fahren gingen, hatte sich ihr Körper verändert. Fast konnte man dabei zusehen, wie ihre Taille dünner, ihre Beine länger wurden, und irgendwann schrappten ihre Füße in den harten, flachen Plastikschühchen und Rüschensöckchen an meiner Seite auf und ab. Als kleines Kind nahm sie kaum Notiz von mir, so verzaubert war sie von den Lichtern und Spiegeln des Karussells. Doch mit zunehmendem Alter, selbst als sie längst gefahrlos allein Karussell fahren konnte, bat sie mich, trotzdem danebenzustehen, und dann pfiff ich vor mich hin und lobte ihren Hengst, und sie sah zu mir hinunter, und ich glaube, die Freude war durch nichts zu toppen, dass meine Tochter wohl gerade eine glückliche Kindheit verlebte – dieses flüchtige Gold, ein verdammtes Wunder.
Das Karussell. Wer als Kind hatte keines, dieses universelle Symbol, um das alle erfüllten und nichterfüllten Gelüste für immer magnetisch zu kreisen scheinen? Ob du’s glaubst oder nicht,
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