Schroders Schweigen
vergisst man nicht.«
ERSTER TAG
Seltsames Wetter. Unten im Tal braute sich ein Gewitter zusammen. Der Himmel war dunkel und aufgewühlt, obwohl es Morgen war, und dazwischen hingen gekreuzigte Flecken aus schillerndem Tageslicht. Das Laub wand sich im Wind. Wetterfahnen jaulten. Die Vögel waren stumm. Meine Haut fühlte sich anders an. Meine Kopfhaut spannte. Irgendeine Last machte mich elend – ein Anschwellen, eine Schicksalswende, eine neue Richtung. Irgendetwas brach auf, und es war bitter nötig.
Du hattest dir eine hervorragende Anwältin gesichert, eine energische junge Cornell-Absolventin, ich hatte nur Rick Thron und ein vernichtendes Sorgerechtsgutachten vorzuweisen, und doch gelang es uns irgendwie, deine Seite aufzuscheuchen. Aufgrund der ausgefallenen Besuche belangte dich ein Richter wegen Missachtung des Gerichts. Wie er das schaffte, weiß ich nicht, aber irgendwie konnte Thron das Gutachten zurückhalten, und ohne dieses entscheidende Beweisstück geriet dein Team in Panik. Euer übereilter Versuch, in Berufung zu gehen, wurde vereitelt, denn der Richter erinnerte daran, dass es bereits eine Übereinkunft gab – eine hart erkämpfte elterliche Vereinbarung, die ein ganzes Jahr lang für Meadow gut funktioniert hatte. Konditionen und Beschränkungen seien weiterhin verhandelbar, aber du musstest mir erlauben, sie zu besuchen.
Inzwischen hatte ich aufgehört, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was gültig und rechtmäßig war. Ich wusste, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man mich entlarvt hätte. Ich war leichtsinnig, unlogisch, vielleicht sogar unmoralisch, aber verrückt war ich nicht. Ich sah ja, wie viel besser deine Anwältin war. Mein Anwalt hatte nicht mal meine gefälschten Unterlagen überprüft. Sicher wusste ich nur, dass ich die Spannung der momentanen Lage nicht mehr ertragen konnte. Ich konnte mir vorstellen, dass es mir eines Tages vielleicht besser gehen, dass ich mich an mein neues Leben gewöhnt haben würde, aber heute – an ebendiesem Tag – konnte ich es nicht mehr ertragen, wie die Luft aus der Welt entwich, sobald meine Tochter mich verließ. Wenn sie fort war, wirkten die Gärten, die Parks, die Straßen von Albany allesamt wie verlassen. Das Leben schwand aus den Dingen. Und bevor mein Leben zu seinem Kreislauf aus Baked Beans und dem sporadischen Nickerchen auf der Couch zurückkehrte, erlebte ich einen Leidenskrampf, eine Art seelische Maulsperre, die ich nicht länger ertragen wollte. Nein, dachte ich. Nicht heute. Ich kann’s nicht. Hättest du zu mir gesagt, ich müsste am Ende des heutigen Tages sterben, hätte ich gesagt: Gut so.
Der vertraute schwarze Chevy Tahoe hielt am Straßenrand. Ich trat hinaus auf mein Treppchen, die Hände in den Taschen, und wartete.
Mein Schwiegervater schenkte mir sein typisches überraschtes Lächeln, nach dem Motto: Hey, du bist ja noch ganz der Alte , und winkte mir zu, ganz so, als wären seine Tochter und ich nicht bis aufs Blut verfeindet. Ich wartete auf Meadow, die mit ihrem Rucksack über den frühlingshaften Rasen trabte.
Zur ersten Frage:
Hat der Angeklagte die Entführung vorsätzlich geplant?
Die Antwort lautet nein. Oder sagen wir: nicht direkt.
Außerdem ist das Wort Entführung völlig fehl am Platz. Es war eher ein Abenteuer, zu dem wir beide in unterschiedlichen Graden der Ahnungslosigkeit und Leugnung der Tatsachen aufbrachen.
»Guten Morgen, Zuckerschnecke«, sagte ich.
Sie sah mich an, und in ihrer rot gerahmten Brille spiegelten sich die großen Weiden wider, die hinterm Haus in die Höhe wuchsen. Der Wind frischte auf und spielte mit den Spitzen ihrer langen braunen Haare. Sie schob sich den Rucksack über die Schulter.
»Morgen, Papa.«
DIE STRASSE
Nach dem Mittagessen forderte ich Meadow auf, sich die Hände zu waschen und ihren Rucksack zu holen.
»Wir kratzen die Kurve!«, sagte ich.
Sie legte den Kopf schief. »Wir kratzen die Kurve? Womit denn?«
»Nein, nein«, sagte ich lachend. »Wir fahren mit dem Auto. Wir machen einen Ausflug. Ganz spontan. Was hältst du davon?«
Sie rutschte von ihrem Hocker und ließ die Krusten ihres Erdnussbuttersandwiches auf dem Mickymausteller liegen, den ich immer für sie dahatte.
»Okay«, sagte sie. »Wohin fahren wir denn?«
»Wollen wir den Tag am Lake George verbringen?«
Sie schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Au ja, au ja!«
»Wer will denn schon den ganzen Tag hierrumsitzen? Ich finde, es ist warm genug zum Baden, du
Weitere Kostenlose Bücher