Schroders Schweigen
einiges von dem, was ich gesagt und getan habe, vergessen.«
Ihre Augen zogen sich zusammen. »Und was ist mit Oma?«
»Oma?« Ich zuckte zusammen. »Du meinst Omi?«
»Nein.«
»Du meinst Oma Kennedy? Die in Twelve Hills auf dem Friedhof liegt?«
»Nein.«
»Ah. Du meinst die Frau von Otto.«
Und während ich mich am meisten davor gefürchtet hatte, das Thema überhaupt anzuschneiden, begriff ich auf einmal, dass es ihr Name war, den ich nicht über die Lippen brachte. Ich schloss die Augen. Im Dunkeln meines Kopfes hörte ich sie, den Takt ihrer Schritte neben mir, fröhlicher, unbeschwerter Vogelgesang um uns herum im Treptower Park, und ich erkannte, dass das Nichtwissen, was diese Frau betraf, den größten Kummer meines Lebens darstellte – dass ich nicht mal wusste, ob sie am Leben war oder tot. Ich wusste nicht, ob ich wollte, dass sie am Leben war oder tot. Ich wusste nur, solange ich Eric Kennedy war, war sie weder am Leben noch tot. Solange ich Eric Kennedy war, existierte sie überhaupt nicht.
Meadow berührte meinen Arm. »Papa?«
Ich schlug die Augen auf. »Tut mir leid«, sagte ich.
»Schon gut.«
»Den Teil der Geschichte kann ich dir noch nicht erzählen. Ich muss – woanders anfangen.«
Schweigen.
Lächelnd blickte Meadow mich an. »Hattest du auch Haustiere in Deutschland?«
»Haustiere!«, sagte ich lachend. »Ja, das hatte ich. Meine Cousins, bei denen ich damals in Westberlin lebte, hatten einen kleinen Terrier namens Brutus.«
»Brutus!«
»Brutus konnte auf den Hinterbeinen durchs Zimmer laufen.«
»Das ist verrückt .«
»Und als Junge in Dorchester durfte ich mir eine Schlange halten. Ha! An die habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht. Sie fraß Grillen. Aber ich hatte sie sehr lieb. Glaubt man gar nicht, aber Schlangen geben sehr gute Haustiere ab.«
»Mäuse und Frösche auch.«
»Ganz bestimmt.«
»Und was ist mit deiner Schule? Deiner echten Schule, Papa, nicht die ausgedachte.«
»Ich bin nicht sehr gern zur Schule gegangen. Ich war nicht glücklich in Dorchester.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Niemand mochte mich. Ich war fremd.«
»Warst du die ganze Zeit traurig?«
»Ich – ich –« Mir entfuhr ein spitzes Lachen. »Entschuldige. Das hier ist alles noch schwerer, als ich dachte.«
Ich erinnere mich, wie am Ende des Tages die Rollos meiner Schule an der Savin Hill Road / Ecke Tuttle heruntergezogen wurden, als wollte man damit andeuten, dass die Fürsorgepflicht für den Tag abgehakt war, und wie danach die hübschen Lehrerinnen das Gebäude verließen, während ich immer noch dastand und auf irgendetwas wartete, auf irgendein gewaltiges Bedürfnis, das niemand befriedigte. Viel später dann überquerte ich die Fußgängerbrücke über dem brausenden Autobahnverkehr und bahnte mir einen Weg hinunter zum Hafen von Dorchester Bay. Der Hafen ähnelte allerdings weniger einer Bucht als einem Flutbecken zwischen Schnellstraße und hartem Sandstrand. Zu meinen Teenagerzeiten brachten sie die Gegend in Ordnung und bauten eine lange weiße Promenade zum Flanieren, mit Bänken und schweren Schiffsketten, die sich durch kleine Betonpfeiler ziehen. Obwohl ich als Jugendlicher oft allein war, spielte das Alleinsein am Hafen keine Rolle. Man konnte anonym durch die Gegend laufen und im McConnell-Park das Team seiner Wahl anfeuern. Vielleicht traf man ja jemanden, den man kannte.
Ich öffnete die Augen und lächelte meine Tochter an. »Nein, ich war nicht die ganze Zeit traurig.«
»Ach so. Dann ist ja gut.«
»Wenn es schneite, sahen die Häuser alle gleich aus, und wir wohnten alle Tür an Tür. Die Schneeballschlachten nahmen epische Ausmaße an. Ganze Kinderarmeen waren am Start. Mit Katapulten und Festungen. Es war immer was los.«
»Ich gehe gern zur Schule«, sagte Meadow und zog sich ein Büschel schlohweißer Haare über die Schulter.
»Ja?«
»Ja. Ich gehe wirklich gern zur Schule. Aber ich sag auch nicht immer die Wahrheit.«
Ich ließ den Kopf gegen den Sitz fallen und war dankbar, dass auch sie mal etwas erzählte, dankbar, dass sie überhaupt mit mir sprach. »Wie meinst du das?«
»Ich tu so, als wüsste ich Sachen nicht, als könnte ich nicht lesen. Wenn ich was vorlese, sagen die anderen Kinder immer Streber zu mir.«
Ich schwieg.
»Ich will nicht, dass sie gemeine Sachen über mich sagen. Also tu ich so, als könnte ich nicht richtig lesen oder als wüsste ich nicht, was die schweren Wörter bedeuten. Ich tu so, als könnte ich
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