Schroders Schweigen
Mäuschen? Mmh, ich hab hier nur einen Kugelschreiber und kein Papier.«
»Wir schaffen das schon«, sagte ich erleichtert.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Ich meine ja nur.«
»Danke für Ihre Besorgnis.«
»Ich meine ja nur. Es ist eine lange Reise, wenn man nichts zu tun hat.«
Ich wandte mich zu Meadow, die mich angrinste. Ich zwinkerte ihr zu.
»He, Papa.«
»Was denn?«
Sie winkte mich zu sich heran. »Weißt du, was die Frau nicht über uns weiß?«
»Was denn?«
Dann rückte sie mit dem Gesicht ganz dicht an mich heran, wie früher, als sie noch keine Brille trug, und legte mir die Hand auf den Arm. »Sie weiß nicht, dass wir ganz viel Phantasie haben.«
RAPUNZEL
An einem Kiosk hatte ich uns beiden die gleichen grünen Baseballkappen mit irischem Kleeblatt gekauft, und so standen wir nun vor der South Station. Ich griff nach Meadows Hand.
»Mein Gott, Boston hat einen ganz eigenen Duft «, sagte ich. »Riechst du das? Es riecht irgendwie sumpfig oder torfig. Nicht nach Benzin wie New York.«
Es war ein windiger Spätnachmittag, aber noch strahlte die Sonne am Himmel. Anfangs hatte ich vor, geradewegs zu meinem Vater zu fahren, aber kaum waren wir in Boston aus dem Bus gestiegen, fiel mir all das wieder ein, was meine wahre Vergangenheit in Form einer Vielzahl von faszinierenden, wenn auch leicht schäbigen Attraktionen zu bieten hatte. Verdammt noch mal, das hier war doch um Längen besser als eine aristokratische Country-Club-Kindheit auf Cape Cod – das hier war Boston, Sitz des kolonialen Amerika, Heimat der Red Sox. Wir schlenderten in das kleine, aber festliche Chinatown und folgten den Touristenscharen durch die Essex Street, bis ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass irgendjemand uns schräg von der Seite ansah. Ich bog in die Harrison Avenue in Richtung Kneeland Street, die sich sicherer anfühlte. In Boston war ich auch nicht sicherer als in der Wildnis von Vermont, aber weil Boston die Stadt meiner Jugend war, fühlte ich mich sicherer, und als ich noch ziemlich klein war, hatte ich ohne Protest von meinem Vater oft die Untergrundbahn von Savin Hill bis in die Innenstadt genommen, keine große Entfernung.
Wir liefen einen Riesenumweg, um vor dem John Hancock Building stehenzubleiben und uns von seinen Spiegeln beduseln zu lassen. Wir spazierten bis zum Copley Square und glotzten auf die Bibliothek mit ihrer kolosseumartigen Fassade, die im letzten Nachmittagslicht kalkweiß schimmerte. Dort kauften wir bei einem Straßenhändler geröstete Cashewnüsse und aßen sie inmitten der Säufer und Tauben. Wir gingen ins Copley Plaza Hotel und taten, als wären wir dort abgestiegen. Wir versuchten, die Kristalle der Deckenleuchter zu zählen. Ich erkundigte mich nach den Zimmerpreisen, warf einen Blick in meine Brieftasche und besann mich eines Besseren. Meine fehlenden Mittel drehten die Schraube der Besorgnis fester an. Tausend Dollar hatte ich in Vermont auf dem Regal hinter dem Le-Carré-Roman zurücklassen müssen. Ich wusste, dass die Zeit allmählich knapp wurde. Ich wusste, dass das unser Finale war, und ich wollte ihr alles schenken, was sie sich wünschte.
Nach einer Kugel Eis für sie und einem Glas Canadian Club für mich im Ivy Room machten wir uns wieder auf den Weg. Wir zogen durch die Boylston Street, und Meadow kam nicht mehr mit.
»Papa. Ich bin müde.«
»Müde? Was brauchst du? Brauchst du ’ne Runde Mountain Dew?«
»Wir laufen schon ziemlich lange rum.«
»Na komm«, sagte ich. »Dir geht’s prima. Du bist ’ne Primaballerina. Wir sind fast am Boston Common. Magst du denn gar nicht mit dem Schwanenboot fahren? Bevor du das nicht gemacht hast, warst du noch nicht richtig in Boston.« Blinzelnd sah ich in den Himmel. Die Boote hatten für heute wahrscheinlich schon den Betrieb eingestellt.
»Und können wir dann zu Opa Otto?«
»Keine Sorge«, sagte ich, »bald ist es so weit.«
»Na gut. Nimmst du mich huckepack, Papa?«
»Klar, Zuckerschnecke. Rauf mit dir.«
Und ich war ihr Kamel, und wir durchquerten die Sahara, und sie lachte, als ich unter den Weiden herlief und durch die Spaziergängerschwärme über die steinerne Brücke der Lagune im Stadtpark galoppierte und sagte: »Entschuldigung, Verzeihung, Entschuldigung, Kamel im Anmarsch.« Im letzten Moment, bevor der Aufseher hinter uns das Absperrseil spannte, schlüpften wir in die Schlange, ergatterten das letzte Schwanenboot des Tages und glitten über die Lagune, gefolgt von einer Reihe
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