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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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rußflaumiger Gänseküken.
    Als wir die Beacon Street erreichten, war es dunkel. Wir liefen am nördlichen Rand des Boston Common entlang, und ich versuchte mich zu orientieren. Unter der Straßenlaterne stand ein Mann im Jahrhundertwendekostüm eines Dieners. Hinter ihm warteten zwei blassgraue Pferde mit roten Pappkegeln auf dem Kopf.
    »Entschuldigen Sie. Sind wir hier in der Nähe der U-Bahn?«, fragte ich den Mann.
    »Ist nicht weit. Sie können da die Abkürzung zur Station Park Street nehmen.«
    »Fährt da die rote Linie? Oder die grüne?«
    »Beide.«
    »Fährt die rote immer noch raus nach Savin Hill Road?«
    »Ich denk mal ja. Ist das Dorchester?«
    »Ja. Ich war lange nicht mehr zu Hause.«
    Ich sah, wie sich Meadow Schritt für Schritt den Pferden näherte. Sie wandten ihr ihre Köpfe mit den Scheuklappen zu. Über die Hinterbacke eines Pferdes lief ein leichtes Zittern, als sie sie berührte.
    »He, und was ist mit Ihnen?«
    »Mit mir?«, fragte der Mann.
    »Können Sie uns nicht nach Dorchester fahren?«
    »Das ist nicht Ihr Ernst. Sie wissen wohl nicht viel über Pferde, was?«
    Ich lächelte. »Nein. Was würde es mich denn kosten?«
    »Es würde Sie so viel kosten wie ein ganzes Pferd.« Der Mann lachte. »Ein neues, wohlgemerkt.«
    »Ich wollte wohl einen großen Auftritt hinlegen.«
    Noch immer lachte der Mann wohlwollend. »Nicht schlecht, Kollege. Danke.«
    Jetzt lehnte Meadow den Kopf an meine Seite. »Fahren wir jetzt zu Opa Otto?«
    Ich legte ihr die Hand auf den Kopf. Ich hatte es spät werden lassen, mein Vater wäre längst im Bett. Heute kann ich sagen, dass ich eine Vorahnung hatte und nicht bereit war, mich dem, was mich erwartete, zu stellen. Aber um die Wahrheit zu sagen, ich war einfach glücklich, wieder da zu sein – wieder zu Hause zu sein –, und selbst die Erinnerung an mich als Ausgestoßenen und Monster schien mir übertrieben, es schien mir nicht mehr als eine Anwandlung zu sein, wie sie in dem Alter jeder mal hat. Ich sah zu meiner Tochter hinunter, die sich müde über ihren kleinen Bauch strich. Sie war es – die Heimkehr in ihrer Gesellschaft –, die mir das Gefühl gab, alles das überwunden zu haben.
    »Dummerweise«, sagte ich, »hat Papa die Zeit aus dem Blick verloren. Ich kenne Opa Otto und weiß, dass er früh schlafen geht. Wir fahren morgen hin. In aller Frühe. Außerdem sind wir noch gar nicht so weit. Deine Sachen sehen ein bisschen lädiert aus. Wir müssen dir ein neues Kleid kaufen.«
    Ein schwaches Lächeln. »Ein neues Kleid?«
    »Ein schickes neues Kleid, meinst du nicht auch? Mit Reifen und Schleifen. Und einen Muff. Damit du standesgemäß aussiehst, wenn du deinen Großvater kennenlernst. Ich gehe mit dir zu Filene’s. Das ist – oder war zumindest mal – direkt am Common. Entschuldigen Sie«, fragte ich den Kutscher und deutete mit dem Finger die Straße hinunter. »Ist Filene’s immer noch da drüben?«
    »Sie meinen Macy’s? In der Winter Street? Da ist jetzt Macy’s drin.«
    Satinkleider mit mehreren Petticoats. Samtumhänge mit silbernen Knebelknöpfen. Kleider mit Rüschen. Kleider mit passenden Handschuhen oder Geldbörsen. Meadow war ganz aus dem Häuschen und rannte durch die Gänge, bis sie endlich etwas anfassen konnte. Zu dieser Stunde war die Kinderabteilung leer, abgesehen von ein paar erschöpften Verkäuferinnen, die mit Aufräumen beschäftigt waren. Ich nickte, bedacht darauf, mich zurückzuhalten, doch als ich sah, wie Meadow eines der Kleider lächelnd an sich drückte, konnte ich nicht anders, als lautstark zu rufen: »Probier’s mal an!«
    Ich studierte gerade eine Broschüre mit Bostoner Hotels, als sie wieder auftauchte.
    »Na, das ist ja mal was«, sagte ich und musste mich sehr zusammennehmen, keine feuchten Augen zu bekommen.
    Das Kleid war türkis und etwa wadenlang. Das Oberteil war aus Satin, doch über dem Rock lag ein schimmernder Netzstoff mit falschen Glitzersteinchen, die unter dem Deckenlicht des Kaufhauses funkelten. Die Schürze des Kleides war so flach und glatt wie ihr Brustkorb und wurde in der Taille von einer silbernen Schnalle zusammengehalten. Darüber trug sie ein kurzes türkisfarbenes Jäckchen. Die schäbigen Söckchen, die sie in der Umkleide versäumt hatte auszuziehen, versüßten irgendwie noch die Wirkung des Kleides.
    »Dein Großvater wird begeistert von dir sein«, murmelte ich. »Der hält dich bestimmt für den absoluten Hammer.«
    Sie stand vor dem dreigeteilten Spiegel und drehte

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