Schroders Schweigen
nichts sehen. Dann nennen sie mich immer Brillenschlange.«
»Ach, Meadow. So was macht mich fix und fertig. Wir sollten eine Schule für dich suchen, die mit einem Kind wie dir umgehen kann. Mit einem begabten Kind. Du bist begabt .«
Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich will keine neue Schule. Ich mag meine Schule.«
»Warum magst du deine Schule, wenn du dort nicht du selbst sein kannst?«
»Meine Freunde sind da.«
»Dann solltest du ein Jahr überspringen. Wenigstens das . «
»Ich will aber kein Jahr überspringen. Dann wäre ich ja nicht mehr in derselben Klasse wie meine Freunde.«
»Warum bestrafst du dich dafür, dass du intelligent bist?«
»Das sagst du immer . Das sagst du immer. Du sagst immer nur dasselbe! Ich höre dir zu, aber du hörst mir nicht zu!«
Sie verschränkte die Arme und wandte den Kopf ruckartig zum Fenster. Schon war sie mir wieder entglitten.
»Entschuldige«, sagte ich.
Unter uns rödelte der Motor des Busses im niedrigeren Gang. Wir kamen an einem Schild vorbei, auf dem Albany, New Hampshire, ausgewiesen war, aber keiner von uns beiden riss einen Witz.
»Du hast einen besseren Vater verdient. Aber stattdessen hast du mich gekriegt.«
Mit glasigem Blick sah sie auf ihren Schoß. Dann neigte sie den Kopf ein klein wenig zur Seite, als ließe sie das Gegenargument ihres pflichtbewussteren Ichs gelten, und gab mir – weil sie nicht anders konnte – einen erneuten Vertrauensvorschuss.
»Hör zu«, sagte ich. »Mich für alles zu entschuldigen würde zu lange dauern. Es würde mein ganzes Leben lang dauern. Und wir haben nur« – ich warf einen Blick auf meine Uhr – »zwei Stunden und fünfzehn Minuten, bis wir in Boston sind. Was genau willst du hören?«
Sie blickte hoch und aus dem Fenster. »Ich will hören, wann du mal glücklich warst.«
Ich nickte. Der Bus tuckerte irgendeiner Stadt namens Tamworth entgegen.
»Ich erzähl dir vom Glücklichsein«, sagte ich. »Am glücklichsten war ich, als ich deine Mutter kennenlernte.«
Sie lächelte, ohne mich anzuschauen.
»Jedes noch so kleine Detail über deine Mutter und mich ist wahr. Ohne Widerruf.«
Jetzt wandte sie sich zu mir und zeigte ein wenig Zahnfleisch. »Erzähl.«
»Wir haben uns kennengelernt, weil ein Junge vom Baum fiel.«
»Stimmt nicht.«
»Stimmt wohl. Ein Junge knallte auf die Erde und brach sich das Handgelenk, und deine Mutter half ihm. Alle – alle – guckten zu, und ich sah sie und verliebte mich vom Fleck weg in sie …«
Die ganze Fahrt bis nach Nashua erzählte ich ihr davon. Vom Tee und den Aprikosen, die ich geschenkt bekam, von den Flitterwochen in Virginia Beach, den Meerwasserschwimmbädern, von deinen Schwangerschaftsgelüsten, deinem riesigen Bauch und wie sie auf die Welt kam, ohne zu schreien, von der hübschen Musik ihres Lieblingsmobiles und wie ihre Schnuffeldecke auf die Welt kam und vom Duft von Ringelblumenöl, vom Winter, von Ästen und Zweigen und gutem Schweigen.
In Nashua stieg eine Frau mittleren Alters dazu. Sie trug eine weiße Strickjacke und nagelneue Jeans und hatte ihre Handtasche unter den Ellenbogen geklemmt. Ihrem Aussehen nach hoffte ich, dass sie einen Platz im vorderen Teil des Busses bevorzugen würde. Aber nein, nachdem aus unerfindlichen Gründen alle anderen Plätze nichts taugten, suchte sie sich einen schräg hinter uns aus.
Irgendwann merkte ich, dass sie ihren Blick auf uns geheftet hatte. Ich sah sie an, und sie lächelte verkniffen zurück und wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu. Das Blut gerann mir in den Adern. Ich sah ihr an, dass sie zu diesen Fanatikern gehörte, die sich Fernsehsendungen ansehen, in denen ganz normale Leute dazu aufgerufen werden, die Augen nach Flüchtlingen offen zu halten.
»Wollen Sie nach Boston?«, fragte sie schließlich und faltete ihre Zeitschrift auf dem Oberschenkel zusammen.
Ich tat, als hätte ich nichts gehört.
»Wollen Sie auch nach Boston?«, fragte sie lauter.
»Wie bitte?«
»Ich habe gefragt, ob Sie auch nach Boston wollen.«
»Ja, wollen wir.«
»Haben Sie denn gar nichts zum Spielen dabei, irgendwas für die Kleine? Haben Sie denn gar keine Malstifte und Papier dabei?«
»Nein. Was zum Spielen? Ich – nein, habe ich nicht dabei.«
Bekümmert legte die Frau den Kopf schief. »So eine lange Reise. Sehr lang für ein kleines Mädchen, wenn sie keine Beschäftigung hat.« Sie begann in ihrer Handtasche zu graben. »Ich guck mal, ob ich was zum Malen habe. Möchtest du einen Buntstift,
Weitere Kostenlose Bücher