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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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USA und Australien. Es war 1979, und hätte man zu irgendeinem Deutschen auf der Straße gesagt, Warte nur ab, in zehn Jahren fällt die Mauer , hätte er einem ins Gesicht gelacht. Gelegentlich desertierte ein Wissenschaftler oder eine Primaballerina auf Tournee und brachte dem Westen neue Kunde von den materiellen und rechtlichen Entbehrungen, die hinter dem Eisernen Vorhang Alltag waren. Außerdem wurden in Boston Elektriker gesucht. Also brachen wir auf. Ich zog meinen Anorak und die steife Ost-Jeans an, suchte meine Comicheftchen zusammen und nahm Abschied von meinen Cousins.
    Zu den Überraschungen, die mich erwarteten – denn in meiner Kindheit wurde Kindern nie etwas erklärt –, zählte das atemberaubende Gefühl des Abhebens, als Papa und ich 1979 vom Flughafen Tegel abflogen. Bis sich das Flugzeug neigte, als wollte es einen Kniefall vor der Sonne machen, hatte ich immer noch nicht ganz begriffen, dass wir tatsächlich in die Luft aufsteigen würden. Als ich von der Schubkraft in den Sitz gedrückt wurde, wäre ich fast bewusstlos geworden vor Verwirrung und dem jähen Gefühl von Verrat. In meinem Herzen lockerte sich das Eigelb. Ich spürte, wie sich dieses Eigelb mitten in mir loslöste aus meinem Brustkorb, und es war zu glitschig und zu weich, um es aufzufangen. Zu meinem Vater, der schweigend aus dem Fenster sah, sagte ich nichts. Das Flugzeug brannte sich durch den Himmel. Wir hoben ab. »Auftrieb«, sagte mein Vater aus irgendeinem Grund. Ich schwieg und konnte nur hoffen, dass er sich nicht vom Fenster wegdrehte und meine Ergriffenheit bemerkte. Auftrieb. Und während er das sagte, neigte sich eine Tragfläche gen Erde, und mein Vater und ich schwebten über einem schlagartig entblößten Deutschland, das mehr und mehr verschwand. Unter uns lag eine Zivilisation aus Städten, Wäldern und Autobahnen, eindeutig aus einem Guss, ununterscheidbar, zutiefst ungeteilt. Im nächsten Moment war die Vision wieder hinter den Wolken entschwunden. Mein Vater schwieg. Ich spürte, wie das Flugzeug beim Aufsteigen mit minimalem Widerstand die Wolken durchdrang, so leicht, wie man Stoff zerreißt oder sich aus einer sanften Umarmung freimacht. Immer höher, immer höher ging es hinauf, bis sich das Flugzeug zu entspannen und in der Luft zu setzen schien und in irgendeinem gewaltigen Korridor von Zugvögeln über die Nordsee glitt, und da wusste ich, dass es kein Zurück gab.
    In den ersten Jahren unseres Lebens in Boston erwachte in mir ein neuerliches Interesse an meiner Mutter. Vielleicht sah der Plan vor, dass sie hier zu uns stoßen würde. Ich musterte jede Frau ihres Alters in den Straßen von Savin Hill. Ich musterte Mütter mit kleinen Kindern. Ich beobachtete die Mütter, ich beobachtete die Kinder. Ich wartete auf Verständnis. Ich versuchte, meiner eigenen verblassenden Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Doch das Studium dieser Menschen führte zu nichts. Die Frauen wirkten mit sich beschäftigt und gereizt. Nur selten lachten sie oder unterhielten sich. Sie schleppten ihre Kinder so schnell hinter sich her, dass die Kinder wirkten wie angeheiterte Affen. Ich beobachtete sie alle, und ich schloss sie alle in mein Herz, und ich wollte sie alle haben, bis sie mir schließlich alle zuwider waren und ich mich mit Erleichterung auf die Seite meines Vaters schlug. Und ich hielt den Atem an, und ich verkroch mich tief in mein Inneres, und schon bald schaffte ich den Sprung, ich verließ Dorchester. Ich zog nach Albany und war genau zwei Mal noch in Boston – einmal nach meinem Studienabschluss in Mune, um meine Sachen zu packen, damit Papa mein Zimmer beziehen konnte, und dann noch einmal mit sechsundzwanzig, als mein Vater sich den grauen Star operieren ließ. Noch immer rief ich ihn an. Ich meldete mich. Aber Papa rief selten bei mir an und verlangte auch nie mehr von mir. Er verlangte auch nie eine Erklärung für meine Flucht. Es war fast, als wäre ihm klar, dass ich etwas zu verbergen hatte, und als habe er dafür Verständnis.
    Und dann lernte ich im Washington Park ein schönes Mädchen kennen, und ich brauchte eine radikale Zäsur. Ich hatte keine andere Wahl. Die Sache, die ich da am Laufen hatte, würde ich unter gar keinen Umständen gefährden – eine ernsthafte Beziehung mit einem echt amerikanischen Mädchen, einem so intelligenten Mädchen, dass es eines Graduiertenstudiums bedurfte, um seinen Verstand zu zähmen, ein Mädchen, das gern seine nackten Füße auf dem Armaturenbrett

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