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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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und gar erklären kann, denn ich halte es für möglich – wenn ich es erklären würde, wenn ich die Schuld auf mich nehmen würde, würde ich herausgegriffen und geschlagen und müsste sterben.«
    Sie riss die Augen auf. »Mach das nicht.«
    »Doch, es ist Angst. Es ist meine Angst . Ich glaube nicht, dass es mich tatsächlich umbringen wird, wenn ich bestimmte Dinge ausspreche. Vielleicht befürchte ich nur, dass du dich von mir abwendest, und das wäre für mich so etwas wie ein Tod. Irgendwie bist du ja alles, was ich noch habe.« Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Guck dich nur an, dachte ich, du suchst die Absolution bei einem Kind.
    Aber sie – das begabte Kind – zuckte nur mit den Schultern. »Du musst wahrscheinlich einfach nur dein Bestes geben.«
    Ich lächelte. »Du hast recht.«
    »Okay«, sagte ich. »Dann werde ich es dir mal so erklären: Erinnerst du dich noch, wie du eine Zeitlang eine kleine Schwester wolltest? Du wolltest sie so dringend und hast so viel darüber nachgedacht, dass es dir manchmal vorkam, als hättest du tatsächlich eine kleine Schwester, weißt du noch? Wie du manchmal sogar den Leuten von deiner kleinen Schwester erzählt hast, wildfremden Leuten, und wie du manchmal ein bisschen vergessen hast, dass du nur flunkerst? Und wie die Leute dann tatsächlich geglaubt haben, du hättest eine kleine Schwester, und wie sie dir Fragen gestellt haben, zum Beispiel, wie alt die Schwester ist oder wie sie heißt. Und dir ist aufgegangen, dass du die Antworten parat hast. Denn wenn dir andere Leute geglaubt haben, obwohl du genau wusstest, dass die kleine Schwester nur ausgedacht war, kam sie dir wirklicher vor – das heißt wirklicher für dich selbst . Verstehst du, was ich meine?«
    Sie nickte.
    »Großartig«, sagte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Großartig. Sitzt du bequem? Schöner Bus.«
    »Mhm-hm.«
    »Also, ein paar Sachen. Erstens. Ich habe dir doch früher immer von Twelve Hills erzählt, wo ich aufgewachsen bin. Ich bin eigentlich nicht in Twelve Hills aufgewachsen. Ich wünschte , ich wäre in einer Stadt wie Twelve Hills aufgewachsen. Aber stattdessen bin ich ganz in der Nähe aufgewachsen, in einer Stadt namens Dorchester, die du bald kennenlernen wirst. Und davor, lange davor« – ich räusperte mich – »wurde ich in Deutschland geboren.«
    »Ach so.« Sie schaute mich verwirrt an. »Also hast du nie auf Cape Cod gewohnt?«
    »Nein. Aber mein Gott, ich war ein paarmal da. Die Ortsnamen da draußen haben mich begeistert. Cotuit. Barnstable. Wellfleet. Weißt du irgendetwas über die Familie Kennedy, unsere Namensvetter, mehr oder weniger? Sie hatten ein Anwesen in Hyannis Port. Das war eine sehr wichtige Familie. John F. Kennedy war der 35. Präsident der Vereinigten Staaten. Die Deutschen liebten Kennedy. Nachdem in Deutschland böse Männer an der Macht waren, besuchte er die größte Stadt Deutschlands und sagte: Ich bin von hier! Alle sind von hier! Wir alle sind Sklaven, bis wir alle frei sind! Präsident Kennedy war ein echter deutscher Held.«
    »Also war Präsident Kennedy auch deutsch?«
    »Nein.« Ich sah auf meine Hände. »Na ja, ja und nein. Weißt du was? Das ist eine sehr theoretische Frage. Hör zu. Ich will dich nicht mit Geopolitik verwirren. Eigentlich will ich dir nämlich von deinem Großvater erzählen. Nicht Opi, und auch nicht von dem Mann aus Twelve Hills. Von deinem anderen Großvater. Er ist der Deutsche. Sein Name – sein Name – ist Otto Schroder. Und den möchte ich dir gerne vorstellen.«
    »Otto Schroder«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Das ist mein Großvater?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Wie viele Großväter habe ich denn?«
    »Na ja, zwei. Oder drei. Kommt drauf an, wie wichtig dir Großvater Kennedy ist. Der Punkt ist – das Problem ist –, du hast weder den einen noch den anderen jemals kennengelernt, nur Opi. Und ich muss mich – ich muss mich dafür bei dir entschuldigen.«
    Ich hielt inne, um mich zu sammeln, und blickte über ihre Schulter hinweg auf das stetig kleiner werdende Vorgebirge der White Mountains.
    »Ich muss mich bei dir entschuldigen, dass ich dir diese Informationen vorenthalten habe, die dir qua Geburt zustehen. Ich habe dir Informationen vorenthalten, die dir dabei helfen, zu wissen, wer du bist. Dass du das nicht gehabt hast – dass ich dir das genommen habe –, na ja, ich hoffe, dass du mir das irgendwann verzeihen kannst. Du bist erst sechs. Du wirst hoffentlich

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