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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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sonnte, wenn wir im Auto unterwegs waren, eines, das mir mehrere Jahre später ein bildschönes Kind schenkte mit einem vollendeten vierkammrigen Herzen. Und auch wenn ich oft mit dem Gedanken spielte, wieder Kontakt aufzunehmen zu meinem Vater, hat es sich nie wirklich ergeben. Ich hätte zwar mit ihm wie früher am Kartentisch mit Blick auf die Savin Hill Road sitzen können, aber was dann? Es gäbe die Erwartung, dass wir uns wiedersehen, eine neue Verschwörung würde ersonnen und rasch wieder verworfen werden, und dann käme eine weitere lange Phase des Schweigens.
    All das ging mir durch den Kopf, als Meadow und ich in Conway in den Bus stiegen. Am Abend zuvor hatte ich ihr versprochen, dass wir nur noch ein letztes Mal Station machen würden, bevor ich sie nach Hause brächte. Wir wollten nach Boston. Dort, sagte ich ihr, würde sie endlich jemanden kennenlernen, der mir sehr viel bedeutete. Jemanden, den ich liebte und den ich ihr aufgrund diverser Fehlentscheidungen vorenthalten hatte. Ich wollte nur noch eins, und zwar diesen Fehler wiedergutmachen, sie müsse nur noch ein klein wenig durchhalten. Ich wollte sie meinem Vater vorstellen.
    Vielleicht glaubte sie mir und sah sich in ein bis zwei Tagen wieder in den Armen ihrer Mutter. Aber vielleicht glaubte sie mir auch kein Wort, und ihr Geduldsfaden war einfach nur kurz vor dem Zerreißen und sie selbst jenseits aller Überlebensängste. Ich weiß es nicht, doch wir hielten uns an den Händen . Wir hielten uns an den Händen , als wir auf einer Straße unweit des Mount Ragged von einem Handwerker in seinem Auto nach Conway mitgenommen wurden. Wir hielten uns an den Händen , als wir in einer wolkenverhangenen neuenglischen Kleinstadt am Fahrkartenschalter standen. Und als der Bus nach Süden an jenem Nachmittag eintraf, hielten wir uns an den Händen und stiegen zusammen die gummierten Stufen hinauf in den kühlen Schlauch des Busses. Wir hatten nichts dabei. Instinktiv gingen wir nach hinten durch, und Meadow strich dabei über die schwarz samtenen Sitze. Wir nahmen Platz, zusammen mit einem halben Dutzend weiterer Reisender nach Süden, und dann fuhr der Bus auch schon los. Ich denke, sie ahnte, dass das nicht leicht war, was auf mich zukam. Was ich ihr sagen musste.
    Noch bevor wir Conway verließen, spürte ich, wie ihr Blick auf mir ruhte.
    Ha, dachte ich, der Kleinen entgeht nichts.
    »Erzähl«, sagte sie. »Du hast gesagt, du wolltest mir was erzählen.«
    »Habe ich das?«
    »Hast du. Hast du. Jetzt im Ernst, Papa.«
    »Okay«, sagte ich. »Meine Lebensgeschichte. Können wir?«
    Sie nickte und sah nicht weg.
    »Also, ich habe mir überlegt, wie ich diese Geschichte beginne, und weil es so eine lange Geschichte ist, braucht sie, wie ich finde, eine Beschwörung.« Ich hob die Hände. »Erzähl mir, o Muse, von jenem ingeniösen Helden, der nach der Plünderung der berühmten Stadt Troy, New York, kreuz und quer durch die Lande reiste!«
    Meadow lächelte nicht.
    »Ha«, sagte ich. »Ich werde noch die ganze Nacht hier sitzen.«
    » Jetzt erzähl. «
    »Also gut. Pass auf. Herrgott noch mal, Meadow. Ich war noch nie in meinem Leben so nervös.«
    »Sei nicht nervös, Papa.« Sie nahm meine Hand. »Du bist doch mein Papa.«
    Die Tränen brannten mir in den Augen. Ich kann nicht erklären, was das für ein Gefühl war, mich zu rüsten für etwas, was ich noch nie in Worte gefasst hatte, zumindest nicht auf Englisch – Namen, Orte, Wahrheiten. Waren sie überhaupt fassbar? Würde die Zeit beim Aussprechen bestimmter Wahrheiten nicht stehenbleiben, würden nicht wie in einem Alptraum Soldaten auftauchen und in unseren Bus einsteigen und mich in die Vergangenheit verschleppen, um mich irgendeinem Ritual zu unterwerfen, bei dem ich sterben würde, sterben oder geopfert würde? Ich wusste nur zu gut, dass ich gegen meine Lügen keine Chance hatte. Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, mich mit ihnen messen zu wollen?
    Wegen eines kleinen Mädchens.
    Ich sah meine Tochter an.
    »Erzähl weiter«, sagte sie.
    »Wie du schon mal festgestellt hast, habe ich nicht immer die Wahrheit gesagt.«
    Meadow wartete.
    »Ich habe sogar sehr ausschweifende Geschichten erzählt – man könnte sagen, ausgedachte Geschichten, und auch wenn diese Geschichten nicht dazu gedacht waren, andere zu betrügen oder zu kränken, war mir immer klar – ja wusste ich genau –, dass sie es dennoch tun würden. Und das ist ein Geständnis, das ich dir – nicht mal jetzt – ganz

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