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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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sich hin und her, ohne mir zuzuhören, die Schultern nach vorn gezogen, das Kinn an der Brust. Drei Meadows, drei türkisfarbene Kleider. Drei Väter, die ihr zusahen. Drei rote Brillen und sechs dreckige Söckchen, drei wasserstoffblonde Mähnen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jemals mehr geliebt habe.
    »Ich sehe aus wie Rapunzel. Oder? Sehe ich nicht endlich aus wie Rapunzel, Papa?«

NOTFALL
    An die Stille zwischen uns hatte ich mich gewöhnt, Laura. Ich wusste, es war grausam, dich nicht anzurufen und dir zu sagen, dass es Meadow gutging, dass es nicht so schlimm war, wie du dachtest. Aber ich war deine Abwesenheit gewohnt, und Grausamkeit waren wir inzwischen beide gewohnt, ich meine diese beiläufige Grausamkeit zweier Menschen, die im Begriff sind, ihr gemeinsames Leben zu demontieren. Seltsam, wie viel im Vorfeld einer Scheidung verhandelt werden muss. So viel Gerangel, und niemand will der Bösewicht sein. Aber sobald die Erklärungen abgegeben und die Grenzen gezogen sind, beginnt ein verzweifelter Machtkampf, und das war’s mit der Höflichkeit, den feinen Nuancen, dem Zartgefühl. Es gibt nur noch Siegen oder Verlieren.
    Ich saß im Hotelzimmer und starrte auf das Telefon. Ich wollte dich anrufen. Nicht weil ich Angst hatte und wusste, dass ich in der Scheiße saß, nicht mal deshalb, weil ich wusste, dass es das Richtige war, sondern weil ich mit dir über Meadow reden wollte. Ich wollte mit dem einzigen anderen Menschen reden, der genauso viel in Meadow investiert hatte wie ich. Ich wollte über Kleinigkeiten reden, darüber, dass sie in ihren Kleidern baden gegangen war oder über ihre Angewohnheit, Sätze mit Adverbien anzufangen wie Eigentlich oder Im Prinzip . Ich wollte jemandem erzählen, was sie alles gemacht oder gesagt hatte, und ich wollte, dass dieser Mensch die gleiche heftige Zärtlichkeit empfand wie ich, als ich all das miterlebte. Ich wollte jemandem von dem türkisfarbenen Kleid erzählen. Sie hatte es jetzt an, mitsamt den dreckigen Söckchen, während sie breitbeinig auf dem Fußboden vor dem Fernseher saß und eine Tüte Fritos futterte. Ich wollte jemandem erzählen, wie glamourös und fehl am Platz sie in ihrem Kleid in der Lobby des Best Western ausgesehen hatte.
    Aber ich hängte das Telefon ein. Ich legte mich aufs Bett, verschränkte die Hände über der Brust und wurde sehr still. Unsere Ehe war Geschichte. Ich konnte mit Meadows Mutter nicht mehr verheiratet sein. Mit dieser Idee konnte ich nicht verheiratet sein. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, dich jetzt einfach anzurufen, um über Kleinigkeiten zu reden.
    Ich drehte mich zur Wand. Keifende Comicstimmen drangen aus dem Fernseher, und Meadow lachte schallend. Ich hörte, wie ein Rollkoffer durch den Flur gezogen wurde. Ich versuchte mich auf jene Sache zu konzentrieren, derentwegen ich nach Boston gekommen war.
    Papa , dachte ich. Mein Vater. Wie bereitet man sich auf dich vor? Ich fragte mich, ob er wohl noch genauso aussah wie früher. Ich fragte mich, ob sein Englisch inzwischen besser war. Ich fragte mich, ob er wieder verheiratet war, ob er vielleicht endlich das Interesse der karibischen Frau aus der Wohnung unter uns erwidert hatte, die meinen Vater trotz seiner drolligen steifen Art in ihr Herz geschlossen hatte. Ob mein Vater mir mein jahrelanges Schweigen verübeln würde, fragte ich mich nicht. Ich wollte mir nicht einbilden, er könnte es mir verübeln. Je mehr ich tatsächlich über ihn nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass er sich überhaupt nicht verändert haben würde, und desto mehr freute ich mich darüber, während mir als Junge nichts lieber gewesen wäre als das genaue Gegenteil.
    Beim Aufwachen, angezogen auf dem gemachten Bett, war ich durcheinander. Es war spät, doch der Fernseher lief noch immer, ohne Ton. Feuchte Luft drang durch die Schlitze unter den Fenstern. Mir gegenüber saß Meadow aufrecht auf ihrem Bett, sie hatte noch immer ihr Kleid an, und sie machte einen gequälten Eindruck.
    »Was ist denn?«, fragte ich.
    Sie sah mich verschwommen an, erwiderte aber nichts.
    »Was ist denn?«
    Ich stand auf, beugte mich vor ihr Gesicht und packte sie an den Schultern. Nach einer langen Pause nahm sie einen flachen Atemzug.
    »Geht schon wieder«, sagte sie pfeifend. Ihr Atem klang abgehackt.
    Ich stand auf.
    »Was?«, sagte ich. »Gut.«
    Ich drehte mich im Kreis und rief mir ins Gedächtnis, wo wir waren.
    »Wir sind in Boston«, sagte ich.
    »Geht schon wieder, geht schon

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