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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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nässte sofort alles durch. Ich versuchte ihr die Haare trockenzurubbeln, aber sie schlug die Hände über den Kopf, als wollte sie einen Angriff abwehren. Auf einmal waren wir Feinde. Und dort, kalt und nass auf dem Bett, an dem sie sich festklammern wollte, wurde ihr die gravierende Ungerechtigkeit ihrer Lage bewusst, das heißt, dass sie nicht nur ihr Bett nicht haben konnte, sondern auch nicht denjenigen Trost, den sie um alles auf der Welt haben wollte. Sie reckte das Kinn zur Decke, zog die Knie an die Brust und stieß einen langen und schauerlichen Schrei aus.
    »MAMA!«
    »Scht, Meadow. Scht!«
    » MAMA! «, brüllte sie erneut. » MAMA! MAMA! «
    Dann streckte sie ruckartig die Beine aus, ihre Nasenlöcher waren groß wie Murmeln. In dieser steifen Haltung verharrte sie, den Rücken durchgebogen, in ihrer Raserei, die Augen aufgerissen und starr. Ich hörte, wie sie immer schwerer Luft bekam und ihr Atem buchstäblich rasselte. Sie verstummte.
    Draußen im Flur fiel hinter mir dumpf die Tür ins Schloss, dann bin ich die zwei Etagen nach unten gerannt, wo der schläfrige Portier den Blick von seinem Fernseher abwandte, ein beflissenes Lächeln auf den Lippen und vollkommen ahnungslos, selbst nachdem er meine Tochter schlaff in meinen Armen entdeckt hatte. Meadows nasser Kopf hinterließ einen Abdruck auf meinem Hemd. Ihre Augen waren offen, aber leer. »Sprich mit mir!«, sagte ich. Sie wollte nicht mit mir sprechen.
    »Wo ist das nächste Krankenhaus?«
    Der Mann erhob sich, ein Sandwich fiel von seinem Schoß.
    »Nicht weit«, sagte er. »Mass General. Brauchen Sie ein Taxi?«
    »Bitte. Bitte. Helfen Sie mir.«
    Draußen stand kein Taxi. Das Best Western blickte auf den Kai zwischen Schnellstraße und Charlestown Bridge. Auf den Betonpfeilern über uns fuhren Millionen von Autos hin und her, aber kein einziges direkt darunter auf unserer menschenleeren Straße.
    »Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte ich. »Rufen Sie ein Taxi. Egal was.«
    »Sofort. Aber –«
    »Aber was?«
    »Sie könnten laufen. Wär vielleicht schneller. Sehen Sie.«
    Ich blickte in Richtung der beleuchteten Spitze des Gebäudes, auf das er deutete. Das Gebäude wirkte sehr nahe, aber schon als ich losrannte, begriff ich, dass es viel näher aussah, als es war.
    Ich rannte unter der einsamen Unterführung her und hinaus auf eine andere Straße mit wenig Verkehr, die glatt war von der mitternächtlich feuchten Luft, sodass sich die Ampellichter verzerrt in ihr widerspiegelten und meine Tiefenwahrnehmung beeinträchtigten. Ich stolperte. Ein Auto hupte. Meadow hing kraftlos in meinen Armen. Ihr Gewicht fühlte sich neutral an, wie ohne Leben. Es schien, als wäre es ihr egal, ob wir hinfallen, ob wir angefahren werden, und als wäre es ihr egal, ob wir es bis ins Krankenhaus schaffen oder nicht. Es schien, als glaubte sie ohnehin nicht richtig an das Krankenhaus. Und ich fragte mich – mit dieser Zwiespältigkeit, mit der ein Mensch in aller Klarheit seinen eigenen Niedergang miterlebt –, ob sie möglicherweise auch an mich nicht mehr glaubte. Vage erahnte sie eine Zukunft, aus der ich verschwunden, verbannt war. Diskreditiert. Weggesperrt. Und sie – die erwachsene Meadow – in einer Gartenwohnung, Jahre später, vielleicht unverheiratet, kinderlos, würde sich sagen: Und mit so einem habe ich mich jahrelang abgegeben? Auf so einen habe ich gesetzt? Oder sie würde vielleicht sogar lachen und mit einem Mal erkennen, dass tatsächlich ein Stückchen Zeit vom hinteren Ende ihres Lebens abgezwackt worden war – ein, zwei Jahre, vielleicht mehr –, Jahre, die sie ihrem Vater geschenkt hatte, als sie noch ein Kind war, kraft ihrer Liebe für ihn und ihrer unerschöpflichen Gnade, um ihn am Leben zu erhalten, bevor ihr die Bedingungen des Transfers wirklich bewusst wurden. Diese Form der Selbstkannibalisierung, die Kinder betreiben, nun, sie ist ein Grund, warum ich geflohen bin. Will sagen, aus Dorchester geflohen.
    Die Schweinwerfer waren grell. Das Polizeiauto war schon an uns vorbei, hatte gedreht und fuhr auf so vernichtende Weise wieder auf uns zu, dass ich kaum vorankam. Mit Meadow auf dem Arm war ich nicht imstande, die Hände schützend vor die Augen zu halten. Meadow drückte ihr Gesicht gegen meine Brust. Eine Tür ging auf, und eine Gestalt näherte sich uns, die ein kleineres Licht schwenkte.
    »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Polizist und ließ den Lichtschein über mein Gesicht wandern.
    »Wird schon gehen.

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