Schrottreif
dessen Benutzung eingeführt. ›Schreib deine Erinnerungen auf‹, hatte sie vorgeschlagen, ›Geschichten, wie es früher war.‹ Kurze Zeit später hatte sie ihr einen Internetanschluss eingerichtet und sie zu einem Internetkurs für Senioren angemeldet. Als Geschenk zum 80. Geburtstag. Das hatte die alte Frau zuerst etwas überrumpelt, aber dann hatte sie Gefallen daran gefunden.
Alle Achtung, dachte Valerie, während sie sich daranmachte, die Lenkergriffe zu entfernen. Sie fuhr mit einem dünnen Schraubenzieher unter den Gummi und sprühte etwas Kriechöl in den Spalt. Nun ließen sich die Griffe herunterschieben. Valerie wischte das Öl sorgfältig vom Lenker.
Sie hatte sich schon oft mit der alten Frau unterhalten und wusste, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte. In ihrer Jugend hätte sie gern Mathematik studiert, aber das Höchste, was ihr Vater ihr damals zugestanden hatte, war eine Ausbildung zur Primarlehrerin gewesen. Da hatte sie wenigstens mit Kindern zu tun. Was sie da lernte, konnte sie später bei den eigenen Kindern anwenden. Eigene Kinder hatte sie dann aber nicht. Aber sie unterrichtete gern. Kinder waren so lernfähig, sie lernten von Geburt an, egal ob sie versunken spielten, herumtobten, sich stritten, Fragen stellten oder etwas beobachteten. Sie lernten, weil sie wissen wollten, wie die Welt funktionierte, in der sie lebten. Man musste also so unterrichten, hatte die junge Lehrerin Salome Zweifel gefolgert, dass die Kinder das, was sie ihnen beibrachte, tatsächlich wissen wollten. Und sie hatte Erfolg. Wenn sie ihre Klassen nach drei Jahren an den Viert- bis Sechstklasslehrer abgab, waren sie mit dem Schulstoff regelmäßig weiter, als es der Lehrplan vorschrieb, vor allem im Rechnen. Natürlich änderten sich die didaktischen Methoden im Laufe der Jahrzehnte, aber Salome Zweifel hatte davon nur das übernommen, was ihr sinnvoll erschien. Wenn sie in der Zeitung las, dass immer mehr Leute auch nach acht Schuljahren nicht richtig lesen konnten, schüttelte sie nur den Kopf. Lesen war eine einfache Kulturtechnik. Auch ein nicht sehr gescheites Kind – oder wie man heute sagte, ein Kind aus bildungsfernem Elternhaus – konnte diese erlernen, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Wenn das in acht Jahren nicht klappte, stimmte etwas mit der Schule ganz grundsätzlich nicht.
Neben dem Unterricht pflegte sie weiterhin ihre geheime Leidenschaft, die Mathematik. Sie verfolgte ihre Entwicklung aus der Distanz, las Artikel darüber auf der Seite Forschung und Technik der Neuen Zürcher Zeitung, verschlang Biografien von Mathematikern, verfolgte die Entstehung der Informatik. Besonders beeindruckte sie Heinz Rutishauser, Informatiker an der ETH, ein Pionier der Computerwissenschaften. Er war im gleichen Dorf aufgewachsen wie sie, war aber einige Jahre älter. Trotz dieser Interessen hatte Salome Zweifel eine Scheu vor den elektronischen Medien. Irgendwie schienen sie einer anderen Zeit anzugehören, in der sie, Salome, zwar lebte, aber mit der sie nicht so eng verbunden war wie mit früheren Zeiten. Die Pensionierung war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Eigentlich hätte sie sich jetzt an der Universität immatrikulieren und Mathematik studieren können. Aber sie traute es sich nicht mehr zu. Ich werde alt, hatte sie gedacht, nein, ich bin alt, die Dinge überholen mich. Es hatte die junge, unbekümmerte Raffaela gebraucht, um sie aus dieser Unsicherheit und Resignation herauszuholen. ›Unsinn, Salome‹, hatte sie resolut erklärt, ›das muss man heutzutage können. Du auch. Und das schaffst du mit links.‹ Und die alte Frau stellte fest, dass sie zwar langsamer lernte, aber nicht so eingerostet war, wie sie gedacht hatte.
»Raffaela fürchtet, ich könnte mich langweilen, allein in der Wohnung«, erzählte sie nun Valerie. »Sie hat mir von diesen Chatrooms erzählt, in denen man Leute von überall her kennenlernen kann. Zum Beispiel pensionierte Lehrerinnen aus Australien. Oder Leute, die Anagramme basteln. Oder ich könnte im Internet kanadische Zeitungen lesen. Das hat mich natürlich schon interessiert, auch wenn es bald 50 Jahre her ist, seit ich in Kanada gelebt habe. Immerhin war ich zwei Jahre dort.«
»Waren Sie schon auf der Website von FahrGut?«, wollte Valerie wissen. Sie hängte die Brems- und Schaltkabel, die mit kleinen Köpfchen gesichert waren, aus der Bremse und der Gangschaltung aus. Dann hob sie den Lenker aus dessen Vorbau heraus.
»Ach,
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