Schrottreif
reparierte, herumschlagen musste, waren definitiv vorbei. Das passierte nun wirklich nicht mehr, dass jemand hereinkam, sie sah und fragte, ob niemand da sei. Und das Gerücht, es sei ein Mann mit 1.000 Franken in der Tasche in ihr Geschäft gekommen, um ein Fahrrad zu kaufen, hätte aber keines bekommen, weil er ein Mann war, kursierte schon lange nicht mehr.
Es gab natürlich Männer, die es auf einen Flirt mit ihr anlegten, aber das ging Kellnerinnen, Apothekerinnen und anderen Frauen an der Front nicht anders. Ein Kunde war sogar extra aus Chur angereist und wollte sie zu einem Billy-Cobham-Konzert einladen. Sie hatte abgelehnt. Aber manchmal ging Valerie auch auf einen Annäherungsversuch ein; ein Flirt, die eine oder andere kurze Affäre, mehr hatte sich seit der Trennung von Lorenz nicht ergeben. Und der, mit dem es unter Umständen mehr hätte werden können, hatte die Gegend vor ein paar Jahren verlassen. Valerie hatte keine Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie nahm eine Familie mit drei Kindern in Empfang, die ihren Nachwuchs ausrüsten wollte. Die älteste Tochter, im zickigsten Teenie-Alter, sollte ein Rad zum Geburtstag bekommen. Sie war demonstrativ desinteressiert und fragte den Vater, ob sie nicht stattdessen einfach das Geld haben könnte, um mit ihren Freundinnen nach Mallorca zu fliegen. Sie ließ sich gnädig dazu herab, auf verschiedene Velos einen Blick zu werfen, die Valerie ihr präsentierte. Sie ärgerte sich nicht so sehr über das Mädchen, denn wenn eine 15-Jährige kein Rad wollte, war ihr das egal. Aber die Eltern, die ihrer Tochter das Geschenk halb andienten, halb aufzwangen, gingen ihr auf die Nerven. Sie ließ sich nichts anmerken, fragte das Mädchen nach der Lieblingsfarbe und weckte eine Spur Interesse, als sie ihr ein türkisfarbenes Modell zeigen konnte.
Nun war der Achtjährige dran. Ihm gefiel das rote Velo am besten.
»Komm, du kannst es draußen mal ausprobieren«, schlug Valerie vor. »Da auf dem Platz kannst du herumfahren.«
Die Mutter intervenierte: »Fabio ist sehr ängstlich, nicht wahr, Fabio, du bist sehr ängstlich, pass auf, dass du nicht umfällst und dir weh machst.«
Valerie wusste Bescheid. Um die Mutter auszuschalten, warf sie einen demonstrativen Blick auf den Jüngsten der Familie, der an den Klingeln herumhantierte. Die Mutter ließ sich ablenken und Valerie ging mit dem ängstlichen Fabio hinaus. Der Beobachtung durch seine Mutter entkommen, vergaß der Kleine augenblicklich, dass er der Hasenfuß der Familie war, bestieg das Rad, fuhr los, ohne zu schwanken, und drehte vergnügte Runden. Valerie beobachtete ihn, stellte den Sattel etwas höher, passte den Lenker dem kleinen Kinderkörper an, erklärte ihm, wo der Schalter für das Licht war.
»Das ist wichtig«, sagte sie, »wenn du bei Dunkelheit fährst, musst du immer das Licht einschalten.«
Fabio zuckte die Schultern: »Wenn es dunkel ist, darf ich sowieso nicht hinaus.«
Der Vater übernahm Fabio, und Valerie wandte sich der Mutter und dem Sechsjährigen zu, der einen Helm bekommen sollte.
Manchmal erlaubte sie sich bei Kunden, die ihr auf die Nerven gingen, eine heimliche kleine Stunde der Rache. Das war so ein Moment. Die Mutter versuchte, ihren Sohn für einen Helm zu begeistern, aber der wollte nicht recht. Da kam Valerie hinzu, frisch und unverbraucht, im Gegensatz zur Mutter, und sagte zum Kleinen: »Schau mal, ich hätte da ein besonderes Modell für dich. Das ist ganz neu. Ein Polizeihelm.« Und sie überreichte ihm einen Helm, auf dem in großen Buchstaben ›Polizei‹ stand. Der Kleine war begeistert. Die Mutter weniger. Ungerührt setzte Valerie dem Bub den Kopfschutz richtig auf und ließ ihn in den Spiegel schauen. Die Mutter stand chancenlos mit einem als Glückskäfer verkleideten Helm daneben. Sie warf Valerie einen argwöhnischen Blick zu. Warum hatte diese Frau überhaupt solche Helme im Sortiment?
»Größe und Form passen Ihrem Sohn ausgezeichnet«, bemerkte Valerie sachlich, »wie für seinen Kopf gemacht.«
»Mama, darf ich diesen Helm haben? Ich will diesen!«, rief der Kleine. »Dann mache ich immer Kontrolle im Quartier und alle müssen mir folgen, wenn ich Polizist bin.«
»Qualitativ ist er hervorragend«, erläuterte Valerie, »und preislich sehr günstig.«
Die Mutter gab auf. Die Familie zog mit zwei Rädern und einem Polizistenhelm ab. Der Kleine hatte ihn gleich aufbehalten. Valerie führte ein recht großes Kindervelosortiment, nicht weil sich das
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