Schrottreif
eine einladende Geste. »Jederzeit.« Sie löste das Fahrrad aus der Halterung, stellte es auf den Boden, ersetzte den schwarz übermalten Sticker durch einen neuen und schob es in den hinteren Werkstattbereich. Nun würde sie noch die Gangschaltung überprüfen und wahrscheinlich neu einstellen müssen.
Adele wusste, dass sie langsam nach Hause gehen sollte. Aber sie konnte sich kaum losreißen. Sie wusste plötzlich, was sie werden wollte: Fotoreporterin. Am liebsten gleich. Aber dafür bräuchte sie einen Laptop. Ein Handy. Einen Fotoapparat. Es war hoffnungslos, wenn man zehn Jahre alt war. Sie streichelte Seppli und machte sich auf den Heimweg.
Auch Frau Zweifel verabschiedete sich. Valerie blieb zurück, etwas getröstet, und nahm sich die nächste Reparatur vor. In der letzten Stunde hatte sie die üble Geschichte ganz vergessen. So sollte es sein, dachte sie, nette Kunden, Nachbarinnen, die zum Plaudern kommen, Arbeit, auch mal nervige Kunden, das gehört dazu. Normal sollte es sein, einfach alltäglich. Was war denn bloß in der letzten Zeit los? Angefangen hatte es mit den übermalten Stickern, dann die Diebstähle, jetzt Drohungen, Belästigungen – was sollte das Ganze? Standen diese Dinge in einem Zusammenhang? Würde es sich noch weiter steigern? Plötzlich stieg eine leise Furcht in ihr auf. ›Du wirst auch nicht besser aussehen, wenn du tot bist.‹ Hatte ein Geistesgestörter sie ins Visier genommen?
Es hatte schon eingedunkelt, als Valerie nach Hause fuhr. Sie nahm heute nicht wie sonst den Fußweg am Fluss entlang, sondern blieb auf der Straße. Nun lasse ich mich doch einschüchtern, gestand sie sich ein, ein bisschen ärgerlich auf sich selbst. Sie war normalerweise unerschrocken, hatte auf Velotouren allein draußen übernachtet, ohne Angst zu haben. Aber im Moment fühlte sie sich nicht auf sicherem Boden.
Als zu Hause das Telefon klingelte, schaute Valerie erst aufs Display, bevor sie sich meldete. Diesmal war es wirklich Lina. Sie erzählte ihr die ganze Geschichte, und ihre Freundin reagierte beunruhigt. Vor einigen Jahren war ihr eine Zeit lang ein Stalker nachgestiegen, ein Typ, der in einer Ausstellung ihre Bilder gesehen und ein Porträt über sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Er hatte sich eingebildet, sie seien füreinander bestimmt, und war, als Lina diese Idee nicht teilte, zunehmend aggressiv geworden. Es ging so weit, dass er sie auf der Straße tätlich angriff. Daraufhin war er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Aber Lina steckte die Geschichte noch in den Knochen. Sie riet Valerie, Telefonanrufe mit unbekannter Nummer gar nicht entgegenzunehmen oder sofort abzubrechen, wenn sich der Unbekannte meldete. »Er will dir ja Angst machen, und wenn du gar nicht reagierst, interessiert es ihn vielleicht nicht mehr.« Valerie hoffte, dass es wirklich nur darum ging, sie in Schrecken zu versetzen. Ganz überzeugt war sie nicht. Als sie zu Bett ging, stellte sie den Klingelton des Telefons wieder auf null.
Samstag, 1. Woche
1. Teil
Am Samstag war, wie immer, viel zu tun. Luís nahm kaputte Räder entgegen. Markus beriet eine Frau, die ein Citybike wollte, und ließ sie erst eine Probefahrt machen, als sie bereit war, ihre Handtasche dazulassen. Ihm steckte es immer noch in den Knochen, dass er sich vor ein paar Tagen so elend hatte übertölpeln lassen. Valerie versuchte, sich auf die Kunden zu konzentrieren, aber ganz bei der Sache war sie nicht. Konnte es sein, dass der Unbekannte, als harmloser Kunde getarnt, im Laden auftauchte? Vielleicht jener kleine dicke Typ dort? Der sah doch überhaupt nicht wie ein Radfahrer aus. Valerie ertappte sich dabei, wie sie jedes Mal in Richtung Tür schaute, wenn die Ladenglocke ertönte.
Früher war ich robuster, dachte sie. Sie hatte Erfahrung mit anonymen Zuschriften, aber so bösartig waren sie nicht gewesen. Als sie das Geschäft erst kurze Zeit gehabt hatte, war einige Male seltsame Post eingegangen, vor allem von Leuten, die sich daran störten, dass sie als Frau ein Fahrradgeschäft führte. Ihr Kopf war aus einem Zeitungsfoto, das die Neueröffnung abbildete, ausgeschnitten und auf ein pornografisches Bild geklebt worden. Es war eine sehr schlechte Collage gewesen, die Größenverhältnisse von Kopf und Körper hatten überhaupt nicht gestimmt. Valerie hatte das einfach weggeschmissen, ohne jemandem davon zu erzählen.
Die Zeiten, in denen sie sich mit dem Erstaunen von Leuten, dass eine Frau Räder
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