Schrottreif
wollte sie gleich an ihr E-Mail-Konto senden, denn über allzu viel Speicherplatz verfügte das Handy nicht. Also, zuerst musste sie auf ›Neue Nachricht‹ gehen, dann, nein, nicht auf ›SMS‹, sondern auf ›MMS‹, auf ›Einfügen‹, ›Video‹, das richtige auswählen, aha, jetzt zuerst den runden Knopf in der Mitte drücken, ihre E-Mail-Adresse eintippen – die musste Raffaela bei Gelegenheit für sie einspeichern – und senden. Das sollte funktioniert haben. Würde sie zu Hause gleich überprüfen. Aber jetzt wollte sie sich das Filmchen anschauen. Falls es gut war, könnte sie Adele nach ihrer E-Mail-Adresse fragen und es ihr schicken. Frau Zweifel lächelte vor sich hin, sie hatte Spaß an der Sache.
Sie dachte dankbar an Raffaela. Es rührte sie, dass ihre junge Großnichte die Geduld hatte, sie in die Geheimnisse der modernen Technologien einzuführen. Meine alten Gehirnzellen funktionieren nach wie vor ganz anständig, stellte sie zufrieden fest, obwohl ich den Lebensstil der jungen Leute nicht ganz verstehe. Um Raffaela machte sie sich manchmal Sorgen. Natürlich ohne es sich anmerken zu lassen. Das Mädchen arbeitete immerhin schon über ein Jahr bei dieser Versicherung. Salome Zweifel fragte sich, was Raffaela in ihrer Freizeit tat, denn davon erzählte sie nie etwas. Die alte Frau hoffte, sie würde einen festen Freund finden. Jemanden, der ihr Halt gab.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Handy zu. Also, jetzt anschauen. Zuerst das Icon – Icon hießen die kleinen Bildsymbole, hatte Raffaela erklärt, was sie amüsierte, weil ihr dabei immer die russischen Ikonen in den Sinn kamen – mit der Filmspule drücken, dann nochmals auf ›Bestätigen‹. Gar nicht so schwierig, dachte sie begeistert. Sie schaute sich das Video an. Es dauerte 30 Sekunden. Sie schaute es nochmals an. Ihr Lächeln erstarb. Ihr Herz klopfte heftig. Ohne zu überlegen, löschte sie die Aufnahme. Legte das Handy beiseite. Ein kleiner Schwindel hatte sie erfasst. Das geht gleich vorbei, dachte die alte Frau, ich muss nur ein wenig sitzen bleiben. Jetzt nicht nachdenken. Ich muss nachdenken, aber erst, wenn mir nicht mehr schwindlig ist. Langsam erhob sie sich und ging mit unsicheren Schritten über den Platz. Nach Hause, dachte sie, ich muss mich hinlegen. Sie achtete nicht auf den Weg, stolperte über ein Bündel Altpapier, das vor der Haustür lag, fiel hin und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf.
*
»Frau Zweifel, was ist mit Ihnen?« Eine Nachbarin beugte sich über sie. »Sie sind gestürzt. Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
»Nein«, Frau Zweifel schlug die Augen auf und murmelte: »Was ist passiert? Bin ich hingefallen? Ich will in meine Wohnung. Ich muss mich hinlegen.«
»Aber Sie haben sich vielleicht verletzt. Ich rufe den Doktor.« Die alte Frau ließ sich von der Nachbarin nach Hause bringen und ein paar Minuten später stand Doktor Hefti vor ihr, der seine Mittagspause in der Praxis verbracht hatte. Er stellte eine Gehirnerschütterung fest. Frau Zweifel war blass und schwach, hatte Kopfschmerzen und musste sich erbrechen, aber sie wollte keinesfalls ins Spital.
»Raffaela wird nach mir schauen, Spitex«, murmelte sie.
»Wenn Sie zehn Tage lang im Bett bleiben und genügend Pflege haben, können Sie zu Hause bleiben«, willigte Doktor Hefti ein. »Jetzt schlafen Sie erst mal, ich verständige Ihre Nichte.«
Später sah sie das Gesicht von Raffaela über sich gebeugt, die besorgt fragte: »Was machst denn du für Sachen?«, und sie wusste, dass sie darauf keine Antwort geben musste. Aber sie reagierte auch nicht, als Raffaela wissen wollte, wo ihr Handy sei. Hatte sie nicht über etwas nachdenken wollen? Hatte das nicht irgendwie mit dem Handy zu tun? Sie schlief wieder ein.
3. Teil
»Können wir den Anhänger ausleihen?« Ein Grüppchen unternehmungslustiger Kinder, zwischen neun und elf Jahren alt, baute sich vor Valerie auf. Sie kannte die drei. Moshes Vater führte ein Geschäft mit koscheren Lebensmitteln in der Nähe des FahrGut, Deborah wohnte gegenüber und Valerie sah die ganze Familie jeweils am Freitag gegen Abend zum Sabbat-Gottesdienst in die Synagoge aufbrechen. Und Aron hatte im letzten Winter an einem Veloflickkurs für jüdische Buben teilgenommen. In Valeries Laden gab es einen alten Veloanhänger, der für fünf Franken pro Woche zu mieten war und vor allem bei den Kindern im Quartier beliebt war.
»Was habt ihr denn damit vor?« Eigentlich kannte
Weitere Kostenlose Bücher