Schrottreif
Valerie die Antwort. Diese Woche war Purim, ein fröhliches Fest, das auf das Buch Esther im Alten Testament zurückging, an dem sich die Kinder verkleiden, die Mädchen als Prinzessinnen, die Buben entweder als Bösewichte im Gewand von Räubern, wenn sie Haman darstellen wollten, oder als gute Männer, zum Beispiel in fantasievollen Polizeiuniformen, wenn sie die Rolle des Mordechai wählten. An Purim beschenken sich Freunde und Verwandte gegenseitig, und die Kinder liehen Jahr für Jahr den Anhänger aus, um Geschenke zu Bekannten zu transportieren. Das erklärten sie ihr jetzt auch eifrig.
»Na gut«, stimmte Valerie zu, »aber ihr kennt die Bedingungen.«
Die drei nickten, klar, sie waren Habitués. Valerie fragte stets genau nach, was die Kinder im Sinn hatten, denn manchmal hatten sie abenteuerliche Ideen. Sie holte das Vertragsformular aus dem Schreibtisch. Das war nicht nur ein Spiel, das sie den Kindern zuliebe mitspielte, sondern sie wollte verhindern, dass sie gefährliche Dinge mit dem Anhänger anstellten, zum Beispiel die kleine Schwester hineinsetzten und sie auf der Birmensdorferstrasse spazieren fuhren. Deshalb hatte sie einen Vertrag formuliert. Da stand: ›Keine Kinder in den Anhänger setzen. Nicht mit dem Anhänger auf der Straße fahren. Den Anhänger nicht nachts draußen stehen lassen. Den Anhänger pünktlich zurückbringen.‹ Jedes Kind musste diese Erklärung feierlich unterschreiben.
»Habt ihr die Kostüme schon?«
»Sicher!«, rief Deborah. »Meine Mama hat mir ein ganz schönes Prinzessinnenkleid genäht. Hellgrün und mit einem Schleier. Und sie wird mich schminken, hat sie versprochen.«
»Und wie verkleidet ihr euch?«, wandte sich Valerie an Moshe und Aron.
»Ich gehe als Mordechai, der Esther hilft, die Juden vor dem Perserkönig zu retten«, erklärte Aron. »Ich mag nicht der böse Haman sein.«
»Ich schon!«, rief Moshe. »Ich bin der schlechte Haman. Aber es ist nur ein Spiel.«
Zufrieden zogen die drei mit dem Anhänger ab.
*
Die Bombe schlug abends ein. Als Valerie die Kassenabrechnung machte, fehlten 4.000 Franken. Das war der Betrag, den Fridolin Heers Supervelo gekostet hatte. Luís hatte ihn bedient. Hatte er einen Fehler gemacht beim Eintippen, hatte das Einlesegerät nicht funktioniert? Luís riss erschrocken die Augen auf.
»Nein, er Geld gegeben, vier 1.000-Scheine. Ich in Kasse gelegt«, stotterte er.
»Luís, das Geld ist nicht da!«, Valerie war außer sich. »Hat er wirklich bar bezahlt? Und hast du das Geld einfach in die Kasse gelegt? Du hättest es mir oder Markus geben müssen, damit wir es in den Safe legen können.«
Luís brach in Tränen aus. »Ich weiß nicht. Ich lege Geld immer in Kasse.«
Valerie konnte sich nicht erinnern, ob sie Luís mit der eisernen Regel des Ladens, dass man nie größere Geldbeträge in der Kasse ließ, vertraut gemacht hatte. Er hatte bestimmt schon gesehen, dass sie Geld in den Safe legte. Vermutlich hatte er sich nichts dabei gedacht. Oder vielleicht doch? Luís verdiente nicht viel bei ihr und soviel sie wusste, war sein Vater arbeitslos. Dennoch mochte sie nicht glauben, dass er hier ein Spiel spielte. Dass er nur vorgab, nicht zu wissen, was er mit dem Geld hätte machen sollen. Dass er es eingesteckt hatte, in der Hoffnung, man könnte ihm den Diebstahl nicht nachweisen, da ja sonst wer rasch hätte in die Kasse greifen können. Irgendjemand, der die Szene beobachtet hatte. Gelegenheit macht Diebe.
Luís zitterte. »Es tut mir leid, ich nicht gewusst.«
»Hast du es etwa genommen?« Das kam von Markus.
Luís schluchzte wieder auf. Auf den Gedanken, man könnte ihn verdächtigen, war er bis jetzt gar nicht gekommen. Entsetzt richtete er seine Augen auf Valerie. »Sie glauben, ich …?« Er brach ab, überwältigt von Schrecken und Angst.
Valerie warf Markus einen ärgerlichen Blick zu. »Halt den Mund!«, fuhr sie ihn an. »Nein, Luís, ich glaube nicht, dass du ein Dieb bist.«
4.000 Franken. Das war ein Schlag. Das war etwas anderes, als wenn ein Schloss für 100 Franken oder ein Sattel wegkam. Es war auch deshalb etwas anderes, weil jemand in die Kasse gegriffen hatte. Es war gewagter, dreister, es war kein beiläufiges Mitgehenlassen eines Gegenstands, den man gerne hätte, sich aber nicht leisten konnte. Der Gedanke, den Valerie bis jetzt immer beiseitegeschoben hatte, die Frage, ob es jemanden gab, der ihrem Geschäft schaden wollte, ließ sich nicht mehr verdrängen.
»Wir müssen
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