Schrottreif
uns überlegen, was heute alles los war. Ob jemand von uns etwas wahrgenommen hat. Ob uns jemand aufgefallen ist. Versucht, euch zu erinnern.« Markus, Luís und sie ließen den Tag Revue passieren. Viel kam dabei nicht heraus. Markus erinnerte sich undeutlich, dass in einem Moment, als er Geld einnahm, ihn ein etwas aufdringlicher Kunde am Ärmel gezupft und etwas gefragt hatte. Aber er habe die Kasse nicht offen gelassen, versicherte er. Womöglich hatte eine Sekunde Unaufmerksamkeit genügt. Valerie fiel ein, dass sie einmal die Kassenschublade zugeschoben hatte. Aber sie wusste nicht mehr, wann das gewesen war. Es war zudem so viel los gewesen, dass sie sich nicht mehr an alle Kunden erinnern konnten. Sie kaute nervös einen Nikotinkaugummi. Ihr kam in den Sinn, dass Frau Zweifel im Laden für ihren Wettbewerb fotografiert hatte. Sie musste sie nach den Fotos fragen, mit etwas Glück waren Kunden darauf zu erkennen. Hugo Tschudi war auf jeden Fall da gewesen. Obwohl sie sich keine großen Hoffnungen machte, dass es etwas bringen würde, ging sie zum Quartierpolizeiposten hinüber, um Anzeige zu erstatten.
»Haben Sie schon mal daran gedacht, im Laden Überwachungskameras zu installieren?«, fragte Zita Elmer, die die Anzeige aufnahm.
Valerie schüttelte den Kopf. »Nein. Das will ich auf keinen Fall. Ich habe ein ganz gewöhnliches Fahrradgeschäft und das will ich nicht überwachen wie eine Bank oder einen Juwelierladen. Was mir hier passiert, ist ja nichts Besonderes. In anderen Geschäften wird genauso geklaut«, fügte sie trotzig hinzu.
Aber ein kleines, unbehagliches Gefühl in ihrem Innern, dass es vielleicht doch nicht so harmlos war, ließ sich nicht ganz verscheuchen. Mein Laden wird mir weggenommen, dachte sie. Stück für Stück. Aber ich werde es nicht zulassen.
*
Als Valerie nach Hause kam, begegnete sie im Treppenhaus Leon. Leon Marti wohnte einen Stock tiefer als sie, war etwas jünger und hatte einen Hund, ein edles Rassetier, Boxerhündin Benja. Manchmal machten sie gemeinsam die Abendrunde mit den Hunden im Bullingerhof oder einen Sonntagsspaziergang am Fluss entlang zur Werdinsel oder auf der Allmend. Seppli und Benja tobten draußen miteinander herum, aber in den Wohnungen ihrer Besitzer gingen sie auf Distanz, beobachteten sich misstrauisch, denn da galt es, ein Revier zu verteidigen beziehungsweise sich auf fremdem Territorium zu bewegen. Leon war Buchhändler. Er war in einer großen Buchhandlung angestellt, hatte aber einige Jahre ein kleines Antiquariat geführt. Er war der einzige ihrer Freunde, der aus Erfahrung wusste, was es hieß, ein eigenes Geschäft zu haben.
»Du siehst aus, als ob du völlig fertig wärst«, stellte Leon fest. »Was ist denn los?«
Valerie gab einen Kurzbericht. Sie erzählte von den geklauten 4.000 Franken, sagte aber nichts von den anonymen Beschimpfungen und Drohungen. Sie hatte Leon gern, aber ab und zu verstand er sie einfach nicht. Deshalb behielt sie allzu Persönliches lieber für sich.
»Komm in einer halben Stunde zu mir, zu Risotto und Rotwein«, schlug Leon vor und Valerie nahm dankbar an.
Sie hatte die ständigen Diebstähle in den letzten Monaten für sich behalten, es wussten nur Lina und ihre Angestellten davon. Nun erzählte sie es Leon beim Nachtessen. »An einem Tag ein teures Schloss, zwei Tage später ein Kilometerzähler, kurz darauf eine Gepäcktasche, letzte Woche zur Krönung des Ganzen das geklaute Mountainbike. Das geht ins Geld, aber was mich am meisten aufbringt, ist, dass mich jemand für dumm verkauft.«
»Und du hast keine Ahnung, wer es sein könnte?«
Valerie zuckte die Schultern, schob sich die letzte Gabel Risotto in den Mund und nahm einen Schluck Wein. Erwähnte widerstrebend Hugo Tschudi, ohne seinen Namen zu nennen.
»Und deine Angestellten?«, forschte Leon.
Valerie schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Markus hatte Mühe, einen Job zu finden, nachdem er mit seiner eigenen Bude in Konkurs gegangen war. Der ist froh, bei mir arbeiten zu können, einen festen Lohn zu haben, von dem er seine Schulden langsam abstottern kann. Er ist mir gegenüber sicher nicht die Herzlichkeit in Person, aber das ist er zu niemandem. Er will einfach Velos reparieren und Velos verkaufen, dann ist er zufrieden.«
»Und Luís?«
»Ach nein, Luís, der würde keine Schraube davontragen, der mag mich.«
»Was ist denn mit Schiesser, deinem Konkurrenten? Der ist ja ziemlich schlecht auf dich zu sprechen.«
»Stimmt,
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