Schrottreif
Unfallversicherung, AHV-Beitrag, was anderes kommt nicht infrage.«
Sibel schien ein wenig verunsichert, nickte aber. Vermutlich war sie es gewöhnt, illegal zu arbeiten, ohne jeden Schutz, ohne Sozialleistungen.
»Hast du denn schon schwarzgearbeitet?«, forschte Valerie, aber Sibel schüttelte hastig den Kopf.
»Nein, nein, ist schon gut so.« Das Thema schien ihr unangenehm zu sein. Als sie ging, winkte sie Markus zu, der einem Kunden Sättel zeigte, und deutete auf das Café, das dem Geschäft gegenüberlag.
Kurz vor Mittag drängten sich die Kunden im Laden. Die gesamte Belegschaft bediente, sogar Luís. Valerie sah, dass Fridolin Heer hereinkam, ein Kunde, der ein hochklassiges Fahrrad, ausgerüstet mit einer ganzen Reihe von teuren Extras, bestellt hatte. Sie hatte ihm heute Morgen telefonisch Bescheid gegeben, dass es eingetroffen war. Heer sah sich nach Markus um, denn der hatte ihn beraten und das Rad für ihn bestellt. Aber ihr Mechaniker war in ein Verkaufsgespräch verwickelt. Er blätterte in einem Katalog, suchte nach einem Modell, das er der Kundin zeigen wollte. Valerie kassierte rasch das Geld für ein Fahrradkörbchen und gab Fridolin Heer mit den Augen ein Zeichen, sie würde gleich für ihn da sein. Aber ein anderer Kunde schob sich dazwischen.
»Sorry, aber ich warte schon zehn Minuten. Bei meinem Velo ist ein Pedal abgebrochen. Es steht dort drüben.« Aus dem Augenwinkel nahm Valerie wahr, dass Luís sich Fridolin Heer näherte. Kein Problem, dachte sie, das Velo ist ja genau so, wie Heer es bestellt hat. Luís muss es ihm nur übergeben und kassieren. Er weiß ja jetzt, wie das Einlesegerät für die Postcard funktioniert. Sie kümmerte sich um das abgebrochene Pedal. Frau Zweifel kam herein, die Handykamera gezückt. Valerie verständigte sich kurz per Zeichensprache mit ihr: Alles in Ordnung, machen Sie ruhig Fotos von dem Chaos.
Adele, die mit Frau Zweifel in den Laden geschlüpft war, zupfte die alte Frau am Ärmel: »Schauen Sie, wie lustig. Seppli ist auf die Werkbank geklettert. Machen Sie einen Film von ihm?«
»Mal schauen.« Frau Zweifel, bisher nicht so vertraut mit den Funktionen des kleinen Geräts, musterte das Display und probierte Tasten aus.
Während sie den Reparaturzettel ausfüllte, sah Valerie Hugo Tschudi durch den Laden schlendern, anscheinend ohne ein bestimmtes Ziel. Wieder stiegen Ärger und Unbehagen in ihr auf. Sie scheuchte rasch Seppli von der Werkbank hinunter und schob die Kassenschublade zu, von der sich Markus nach dem Kassieren für einen Moment abgewandt hatte, weil ihm ein ungeduldiger Kunde auf die Schulter getippt hatte. Sie warf einen Blick in die Runde. Fridolin Heer schob eben sein funkelnagelneues Rad aus dem Geschäft. Luís wurde bereits von der nächsten Kundin belagert und lotste sie zu den Velohelmen. Offenbar war alles problemlos vonstattengegangen. Schon wandte sich ihr wieder ein Kunde zu, ein Jugendlicher, der einen Kilometerzähler kaufen wollte.
Adele warf einen Blick auf ihre Uhr. Fast Mittag. Sie musste nach Hause, sonst kam sie zu spät zum Essen. Dabei hätte sie so gerne den kleinen Film angeschaut von Seppli auf der Werkbank, wie er über die Werkzeuge gestiegen war.
Valerie war froh, als es 12 Uhr war und sie dem Laden für anderthalb Stunden den Rücken zukehren konnte. Als sie endlich mit dem Hund das Geschäft verließ, sah sie im Café gegenüber Markus und Sibel am Fenster sitzen. Sibel redete aufgeregt auf ihren Freund ein, sie schien beunruhigt. Komisch, wunderte sich Valerie, ich hatte den Eindruck, sie sei ganz glücklich, dass sie den Job bekommen hat. Aber falls Markus und Sibel miteinander Probleme hatten, war das nicht ihre Sache. Sie hatte genug eigene. Die Identität ihres anonymen Belästigers lag noch immer im Dunkeln. Die Polizei hatte es auch nicht fertiggebracht, den Typen, der ihr am Samstag nachgeschlichen war, aufzugreifen. Am Montagmorgen hatte sie eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter gehört. Wieder das Flüstern: »Mieses Dreckstück, du entkommst mir nicht.« Deshalb hatte sie die letzte Nacht den Stecker rausgezogen. Sie wollte gar nicht wissen, ob er anrief.
2. Teil
Frau Zweifel setzte sich für einen Moment auf eine Bank auf dem Platz vor dem Haus. Sie wollte sich ein paar Minuten den Rücken von der milden Frühlingssonne wärmen lassen, bevor sie in ihre Wohnung hinaufging und sich das Mittagessen in die Mikrowelle schob. Hoffentlich hatte das mit den Aufnahmen geklappt. Sie
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