Schrottreif
aber der kommt nie in den Laden. Und dass er jemanden auf mich angesetzt haben könnte, kann ich mir nicht vorstellen.« Valerie leerte ihr Glas.
»Jedenfalls ist es gut, dass du endlich Anzeige erstattet hast«, tröstete Leon. »Du hast das Problem viel zu lange für dich behalten.«
»Ich weiß nicht, ob es dem Image des Ladens schaden könnte«, erklärte Valerie. »Früher hatte doch die große Buchhandlung an der Bahnhofstrasse den Ruf, dass man dort ungehindert Bücher raustragen könne, dass die Angestellten einfach wegsähen. Ich hoffe nicht, dass solche Gerüchte über meinen Laden kursieren.«
Leon wusste, wie sehr Valerie an dem Geschäft hing. Er hatte seinerzeit sein Herzblut gleichermaßen in sein Antiquariat gesteckt, aber es hatte sich einfach zu wenig rentiert. Es hatte ihm wehgetan, die Buchhandlung aufgeben zu müssen. Er schenkte Valerie nochmals Wein ein. Als sie, nach einer kleinen Runde mit Seppli, in ihre Wohnung hinaufging, war sie ein bisschen betrunken, aber auch ein bisschen getröstet.
Mittwoch, 2. Woche
1. Teil
Natürlich war Valerie am nächsten Morgen spät dran. Verkatert war sie nicht, denn Leon tischte immer exzellenten Wein auf. Aber sie hatte dennoch nicht gut geschlafen, die Sache mit den 4.000 Franken war durch ihre Träume gegeistert, einmal hatte sie geglaubt, das Klingeln des Telefons zu hören, und war aufgeschreckt. Dazu kam, dass selbst der beste Wein ihren Schlaf störte, wenn sie mehr als eine halbe Flasche trank. »Sorry Seppli, heute nehmen wir den kürzesten Weg«, informierte sie den Hund und der trabte ergeben neben ihrem Rad her. Die nächsten zwei Tage würde sie schon überstehen und danach kam das lange Osterwochenende. Vier Tage frei. Drei Tage wollte sie mit Lina in die Berge fahren, nach Vals. Mit etwas schlechtem Gewissen ihrer Kundschaft und ihrem Umsatz gegenüber hatte Valerie beschlossen, das Geschäft am Samstag nicht zu öffnen. Die freien Tage würden ihr und ihren Angestellten guttun. Denn jetzt lag die Sommersaison vor ihnen und an Ferien war vor Oktober nicht zu denken. Nach den letzten Ereignissen war sie ohnehin froh, ein paar Tage wegzukommen. Kein Telefon, keine Post, keine nächtlichen Heimwege. Auf halbem Weg meldete sich ihr Handy. Es war Markus. Seine Stimme klang gehetzt: »Du musst sofort kommen.«
»Ja, bin schon unterwegs, was ist denn?«
»Komm einfach«, sagte Markus und hatte schon aufgelegt. Scheiße, da musste etwas Übles passiert sein, sonst hätte er nicht angerufen. Ein Einbruch ins FahrGut? Ein zertrümmertes Schaufenster? Ein Brand? Alles in Schutt und Asche? Weitere anonymen Drohungen? Valeries Herz zog sich zusammen, sie machte gar nicht den Versuch, sich zur Vernunft zu rufen. Sie fuhr, so schnell es ging, Seppli, der das für ein tolles Wettrennen hielt, das er unbedingt gewinnen wollte, sauste neben ihr her.
Das Haus stand noch, das Schaufenster war ganz, kein Rauch quoll heraus. Also vielleicht ein Einbruch? Es war 8.40 Uhr. Die Vordertür war verschlossen, Markus hatte noch nicht begonnen, die Räder hinauszustellen. Er erwartete sie beim Hintereingang. »Lass den Hund nicht rein«, befahl er. »Bind ihn an.«
Verwirrt tat sie es. »Was ist denn?«
Er deutete auf die Treppe. Sie ging ins Lokal, zur Wendeltreppe und schaute hinunter.
Dort unten lag Hugo Tschudi. Er trug wie immer schmuddlige Turnschuhe, ausgebleichte Manchesterhosen, eine alte Windjacke.
Valerie ging langsam hinunter, gefolgt von Markus. Draußen gab der Hund ein Jaulen von sich. Valerie kam die Situation völlig unwirklich vor.
Hugo Tschudis Gesicht war bleich. Er lag auf dem Rücken. In einer unnatürlich verrenkten Stellung. Eine Wunde auf der Stirn. Blut im Gesicht. Blut auf dem Boden. Seine Augen waren offen, blicklos. Auch sein Mund stand leicht offen. Hugo Tschudi war tot.
»Ist er hinuntergestürzt?«, flüsterte Valerie.
»Ich weiß nicht«, sagte Markus. »Oben an der Treppe liegt ein Hammer. An dem ist Blut.«
»Hast du die Polizei schon gerufen?«, wisperte Valerie. Ihr stockte der Atem.
»Nein.« Markus schüttelte den Kopf. »Ich habe nur dich angerufen.«
»Warst du schon bei ihm unten?«
Er nickte.
»Hast du irgendetwas angefasst?«
»Nein.«
Valerie ging hinauf, langsam, und allmählich arbeitete auch ihr Gehirn wieder. Ihr Blick streifte den Hammer. Er gehörte zur Werkstatt. Hatte gehört. Wie war Hugo Tschudi überhaupt hereingekommen? Ich muss die Polizei anrufen. Irgendwie wusste sie, dass es eine
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