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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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Krankenschwester bleiben können.
    Endlich trafen die Leute von der Kriminalpolizei ein. Das brach den Bann. Ermittler, Techniker, ein Arzt, Profis, die wussten, was in einer solchen Situation zu tun war. Valerie erkannte überrascht Beat Streiff. Sie hatte ihn lange nicht gesehen. Er hatte vor ein paar Jahren auf dem Quartierpolizeiposten gearbeitet und dann zur Kriminalpolizei, ins Kommissariat Ermittlung, gewechselt. Valerie und er hatten eine kurze Affäre gehabt. Aber damals war sie mit Lorenz zusammen, und später war Beat nicht mehr in der Gegend gewesen. Jetzt leitete er die Ermittlungen. Sie hätte es sich vermutlich denken können. Wenn sie überhaupt hätte denken können. Aber sie befand sich in einem Zustand, in dem ihr alles unwirklich vorkam. Selbst Streiffs Präsenz. Nichts drang wirklich zu ihr durch.
    Der Arzt schaute sich Hugo an und rief anschließend in der Rechtsmedizin an, sie sollten die Leiche abholen, damit sie genauer auf Todesursache und Todeszeitpunkt untersucht werden konnte. Die Leute von der Spurensicherung, in weiße Overalls gekleidet, durchkämmten den Laden. Sie nahmen am Treppengeländer Fingerabdrücke, was vermutlich sinnlos war, mutmaßte Valerie, denn es hatte dort natürlich Abdrücke von Dutzenden von Leuten. Die Tatwaffe, der blutverschmierte Hammer, wurde sichergestellt. Die Techniker zupften mit feinen Pinzetten Fasern von Hugos Jacke und sicherten ein Haar, das unter der Treppe lag, (vielleicht ja bloß von Seppli, dachte Valerie mutlos), und versorgten die Fundstücke in kleinen Plastiksäckchen, die sie beschrifteten. Zwei Leute von der Gerichtsmedizin trafen mit einem Sarg ein. Polizistin Elmer wies neugierige Nachbarn ab. Bevor Hugos Leiche weggebracht wurde, wurde sie fotografiert. Die Umrisse des Toten wurden mit weißer Kreide nachgezeichnet. Danach wurde der leblose Körper, der einmal Hugo Tschudi gewesen war, in den Sarg gelegt, hinaufgetragen und weggefahren. Valerie schaute von oben auf die Kreidezeichnung. Sie hatte sich ja immer gewünscht, Hugo würde nicht mehr in ihr Geschäft kommen. Nun würde er es tatsächlich nie mehr betreten. Aber auf eine seltsame Weise würde er von jetzt an immer präsent sein. Oder konnte man mit der Zeit ein solches Bild vergessen? Die Wendeltreppe hinuntereilen, rechts ins Büro gehen, sich an den Computer setzen, oder geradeaus einen Kunden zu den ausgestellten Velos führen? Immer würde man über Hugo Tschudis Körper trampeln. Der Kreideumriss würde verschwinden. Das Blut würde man nicht mehr sehen, wenn geputzt worden war. Aber Blut bekam man nie ganz weg. Mit chemischen Untersuchungen würde es selbst nach Jahren sichtbar werden. Und sie wusste es auch ohne derlei Verfahren.
    Streiff sah sich im Lokal um. Er musterte Valeries Angestellte. Leute, die dieser durchdringende Blick traf, fühlten sich oft eingeschüchtert, sie hielten ihn für einen scharfen Hund, der einen sofort verdächtigte. Sie täuschten sich. Der Grund für Streiffs Art, Menschen anzuschauen, lag darin, dass er unter einer milden Form von Prosopagnosie litt. Er hatte Mühe, Gesichter wiederzuerkennen. Nicht immer, es betraf lediglich vereinzelte Leute, die er nur flüchtig kannte. Aber in seinem Beruf konnte er sich das nicht leisten. Es mochte angehen, wenn entfernte Bekannte ihn für arrogant oder bestenfalls für zerstreut hielten, aber bei der Arbeit war das ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Prosopagnosie war sein bestgehütetes Geheimnis und er versuchte, seine Schwäche zu überwinden, indem er sich dazu zwang, neue Gesichter buchstäblich auswendig zu lernen, sich bewusst einzelne Merkmale einzuprägen.
    Das ging recht gut, seit er überhaupt wusste, dass da in seinem Gehirn irgendeine kleine Schaltstelle nicht problemlos funktionierte. Vorher war er einfach immer wieder unvorbereitet in eine peinliche Situation hineingeraten, wenn etwa auf einem Fest oder – noch schlimmer – an einer Bushaltestelle irgendeine ihm völlig fremde Person ein Gespräch mit ihm angefangen hatte, die ihn bei seinem Namen nannte und dies und das von ihm wusste, während er nicht die leiseste Ahnung hatte, wer sein Gegenüber war. Er hatte sich jeweils mit Gemeinplätzen durchgemogelt und sich krampfhaft bemüht, aus dem Gesprächszusammenhang zu erschließen, wer die Person sein könnte.
    Nicht einfacher machte es der Umstand, dass er den meisten Leuten in Erinnerung blieb. Er war mittelgroß und kräftig und fast alle schätzten ihn größer, als er war.

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