Schrottreif
leid zu hören, dass die alte Frau krank war. Aber sofort beschlich sie auch eine Unruhe. Ihre Spur! Die Handyaufnahmen. Wenn Frau Zweifel mit Gehirnerschütterung im Bett lag, konnte sie sie nicht nach den Fotos oder Videos fragen. Sollte sie Raffaela ins Vertrauen ziehen?
»Weiß man schon etwas wegen des Mordes?«, erkundigte sich Raffaela Zweifel.
»Nein, ich jedenfalls nicht«, sagte Valerie, die bei sich dachte, dass Streiff ruhig etwas mitteilsamer sein dürfte. »Haben Sie nicht auch Hugo Tschudi gekannt?«, fragte sie, sich an die Szene in der Bar erinnernd.
»Ach, nur ganz flüchtig.« Die junge Frau lenkte das Gespräch wieder auf ihre Großtante. Sie müsse noch einige Tage strikte Bettruhe einhalten. »Nein, besuchen Sie sie nicht«, antwortete sie auf Valeries Frage. »Sie braucht Ruhe. Sie weiß natürlich nichts von alledem, was in den letzten Tagen bei Ihnen geschehen ist.«
Valerie kam unpassenderweise der Film ›Good Bye, Lenin!‹ in den Sinn, in dem eine ostdeutsche Frau zu DDR-Zeiten ins Koma fällt und erst erwacht, als Deutschland aus neuen und alten Bundesländern besteht.
Raffaela erkundigte sich nach Frau Zweifels Handy. Sie hatte es ihr auf den Nachttisch legen wollen, für Notfälle, weil es handlicher war als der Festnetzapparat, aber sie hatte es einfach nicht finden können. Salome hatte doch vorgehabt, für diesen Seniorenwettbewerb im Quartier Fotos zu machen. Vielleicht hatte sie es irgendwo liegen lassen. Raffaela hatte sie gefragt, aber sie war zu schwach, um sich dafür zu interessieren. Valerie konnte mit Sicherheit sagen, dass das Handy nicht im FahrGut war. Dann hätten es entweder die Polizisten bei ihrer Spurensuche oder sie selbst bei der Putzaktion gefunden. Und wie froh wäre ich, wenn ich es gefunden hätte, dachte sie.
Das Gespräch mit Raffaela Zweifel beunruhigte sie. Sieh an, überlegte sie. Das Handy ist weg. Gut, so ein Gerät ist rasch verloren, und eine alte Frau, ein bisschen vergesslich, hat es schnell einmal verlegt. Und doch. Gerade in dem Moment, als möglicherweise brisante Aufnahmen darauf gespeichert sind, verschwindet es. Ein Handy kann sehr leicht geklaut werden, überlegte Valerie. Gerade einer alten Frau. Vielleicht ist meine Spur doch nicht nur ein Hirngespinst. Wenn ich nur wüsste, was Frau Zweifel fotografiert oder gefilmt hatte. Ob sie selbst sich überhaupt daran erinnern kann? Aber es ist ganz ausgeschlossen, sie jetzt damit zu behelligen. Vielleicht sollte ich doch wenigstens mit Beat Streiff darüber sprechen? Langsam bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die Sache vor ihm geheim hielt. War doch irgendwie kindisch. Sie selbst hatte ja mit ihrer großartigen Spur bisher nichts herausgebracht, während er viel mehr Möglichkeiten hätte. Aber sie konnte ja noch etwas warten, nur so lange, bis sie Frau Zweifel einen Krankenbesuch abstatten und mit ihr darüber reden konnte. Oder sie würde es Beat erzählen, wenn er sich meldete.
Mittwoch, 3. Woche
1.Teil
Der Bann war gebrochen. Valerie stürzte sich in die Arbeit. Sie ignorierte den toten Hugo, der für den Bruchteil einer Sekunde am Fuß der Treppe lag, jedes Mal, wenn sie hinauf- oder hinuntereilte. Sie dachte nicht mehr die ganze Zeit daran, dass nach wie vor jemand herumlief, der Hugo Tschudi getötet, mit einem Hammer auf ihn eingeschlagen hatte. Und im Anschluss offenbar die Kaltblütigkeit besessen hatte, seine Fingerabdrücke sorgfältig abzuwischen.
Und doch hatte sich ihr Verhältnis zu ihrem Geschäft verändert. Es kam ihr irgendwie schutzbedürftig vor. Abends schloss sie es nicht automatisch ab, sondern bewusst, sorgfältig, und einmal fuhr sie nachts aus einem Traum hoch. Sie hatte geglaubt, das Telefon klingeln zu hören, und sofort war der Gedanke da: Es ist wieder etwas passiert mit dem Laden. Aber darüber redete sie mit niemandem. Valerie, du reißt dich zusammen, ermahnte sie sich streng.
An diesem Morgen machte sie sich auf zur Firma Noser und Luchsinger, dem Grossisten im angrenzenden Quartier, bei dem sie Ersatzteile für Reparaturen bezog. Seppli trippelte neben ihr her. Es war ein Geschäft im Kreis vier, ein altes Gebäude in einem Hinterhof. Im Parterre war eine jüdisch-orthodoxe Gemeinde mit ihrem Bethaus eingemietet, an Pessach duftete es nach frischgebackenen Matzen; im oberen Stockwerk verkaufte Luchsinger, der von Noser und Luchsinger übrig gebliebene Partner, Schrauben, Muttern, Rädchen, Ketten, Speichen, Rücklichter, Bremskabel, Pneus
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