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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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den Füßen weggezogen, weil du nicht mehr weißt, wem du trauen kannst. Ist es nicht so?«
    »Ja«, gab Valerie zu, »das ist es auch. Ich gehe die Kunden im Geiste durch, Leute, die ich zum Teil als Stammkunden kenne, als Nachbarn aus dem Quartier. Irgendwer hat mein Geschäft benutzt für etwas, was mit mir nichts zu tun hat. Oder doch? Aber was? Ich weiß es einfach nicht. Aber es hätte nicht geschehen dürfen. Es ist mein Laden. Und dann noch der Schock, dass es Tschudi war, der mich belästigt hat. Was hat er bloß damit gewollt? Na ja, das kann mir ja jetzt egal sein.«
    »Hast du denn einen Verdacht, wer der Mörder sein könnte?«
    Valerie zuckte die Schultern. »Nein. Und ich möchte auch gar nicht damit anfangen, jemanden zu verdächtigen. Ist ja nicht mein Job. Soll Streiff seine Arbeit machen.«
    »Aber es wäre wohl gar nicht so dumm, wenn du dir ernsthaft Gedanken machst, wer der Täter sein könnte. Du bist näher am Laden dran als die Polizei. Du kennst deine Kunden, du kennst deine Konkurrenz, du kannst dich eh nicht raushalten.«
    »Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.« Valerie biss sich auf die Lippen. »Jemanden umzubringen, wirklich zu töten, das ist Lichtjahre entfernt von irgendeiner Antipathie oder einer Wut auf jemanden. Das ist eine ganz andere Dimension. Ich lese gern Krimis. Aber das ist eine andere Welt, das hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. In der Realität ist ein Mord nichts Spannendes, er ist nur schrecklich und beängstigend. Weißt du, vor ein paar Wochen hatte ich einen Riesenzorn auf eine unverschämte Kundin. Ich habe sie aus dem Laden gejagt, davon habe ich dir erzählt. Aber ich hätte sie doch niemals erschlagen, nicht einmal im größten Wutanfall. Verstehst du, was ich meine?«
    Lina nickte. »Klar. Und doch ist es passiert. Vermutlich im Affekt. Es kann gut sein, dass der Täter jemand ist, den du schon mal gesehen hast, der eines Tages im Laden war. Hat Hugo irgendwann jemanden in den FahrGut mitgebracht?«
    »Nicht dass ich wüsste. Aber du hast recht. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und warten, bis die Polizei den Fall aufgeklärt hat. Es ist mein Laden, und er ist beschmutzt, mir weggenommen worden, und ich will ihn mir zurückholen. Aber was soll ich tun? Was kann ich tun?« Wieder ging ihr die alte Frau Zweifel durch den Kopf. Die Fotos, die möglicherweise etwas Wichtiges abbildeten, jemanden zeigten. Das war die einzige Idee, die sie hatte. Aber davon erzählte sie Lina nichts. Vielleicht würde ihre Freundin darauf bestehen, dass sie es Streiff erzählte. Und das wollte sie jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht würde es Lina aber auch für völlig unwichtig halten und dann war es ohnehin besser, es für sich zu behalten.
    »Wie ist es für dich, dass gerade Beat in dem Fall ermittelt?«, wollte Lina wissen.
    »Irgendwie finde ich es gut«, antwortete Valerie. »Ich denke, er ist ein guter Ermittler. Und das mit uns ist schon lange her. Aber ich frage mich manchmal vor dem Einschlafen, ob er mich verdächtigt.« Und wenn, fügte sie für sich hinzu, werde ich es ihm nie verzeihen.
    »Kaum«, meinte Lina. »Du hast ja ein Alibi. Aber was denkst du über Markus und Luís? Vertraust du ihnen?«
    »Schon«, sagte Valerie. »Luís ist noch ein Kind. Und Markus war befreundet mit Tschudi. Nein, das Unheimliche ist ja, dass ich keine Ahnung habe, keine Ahnung, für welches Stück mein Laden das Bühnenbild abgibt. Jedenfalls hat es mir gutgetan, ihn zu putzen. Aber wie ich mich fühlen werde, wenn ich am Dienstag wieder drin stehe, vor Markus und Luís die Chefin spielen und irgendwelche Kunden bedienen muss, die wahrscheinlich nur kommen, um sich den Tatort anzusehen …«
    Linas Handy klingelte. »Nem érek rà«, sagte sie ins Telefon. »Juraban vagyok. Igen, Péterrel. Felhívlak holnap.« Ach Lina, dachte Valerie, wider Willen amüsiert. Ihre Stimmung hellte sich ein wenig auf. Sie gingen zurück ins Hotel, setzten sich in die blaue Halle, tranken Tee und lasen – Lina in einem Ausstellungskatalog über Ursina Vinzenz, eine Engadiner Malerin, Valerie einen Roman von George Pérec –, bis es Zeit war fürs Abendessen. Während der Mahlzeit sprachen sie nicht über die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage. Valerie gab kleine komische Geschichten zum Besten von merkwürdigen Leuten, die den Laden frequentierten, zum Beispiel von einem alten diebischen Ehepaar, das ihr mit viel Charme und Beredsamkeit ein Werkzeug leihweise abgeluchst,

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