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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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möglich.
    Sie klickte auf das Icon, das das Attachment symbolisierte, die kleine Videoaufnahme. Jetzt konnte sie sich genau erinnern, was sie darauf sehen würde. Sie klickte auf ›Start‹ und schaute sich die 30 Sekunden an. Ihre Erinnerung hatte sie nicht getäuscht.
    Sie schaltete den Laptop aus. Das kurze Filmchen brauchte sie sich kein zweites Mal anzusehen. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer. Setzte sich in ihren Sessel. Dachte nach. Valerie. Sie war bei ihr in die Schule gegangen. Vor über 30 Jahren. Ein aufgewecktes kleines Mädchen. Manchmal hatte sie Spuren von Karrenschmiere an den Händen gehabt, wenn sie in die Schule kam. Sie war ja praktisch in der Werkstatt ihres Vaters aufgewachsen. Aber Frau Zweifel hatte darauf bestanden, dass sie saubere Hände hatte, und schickte sie zum Händewaschen. Valerie hatte widerstrebend gehorcht, es ihr aber nicht übel genommen. Im Grunde waren sie gut miteinander ausgekommen. Valerie war intelligent. Lernte schnell. Rechnete und zeichnete gerne. Salome Zweifel hatte es schön gefunden, dass sie schließlich das Geschäft ihres Vaters übernommen hatte und mit dem Laden sogar in ihr Haus gezogen war. Sie hatte Valeries Erfolg am Rande mitbekommen, nicht als Kundin natürlich, aber als Nachbarin, und sich darüber gefreut. Anfangs hatte sie sich ein wenig Sorgen gemacht, wie Valerie sich in dieser Männerwelt behaupten würde. Lieferanten, Angestellte, fast alles Männer. Aber sie hatte erkannt, dass sie anscheinend problemlos zurechtkam. Sie konnte recht energisch auftreten, wenn es nötig war.
    Salome Zweifels Gedanken schweiften weiter. Zu einem anderen ehemaligen Schüler. Ihn hatte sie manchmal ebenfalls hinausschicken müssen. Nicht zum Händewaschen, sondern sie hatte ihn für zehn Minuten vor die Tür gestellt, weil er sich schlecht benommen hatte. Er hatte gestört. War unkonzentriert gewesen. Ein unruhiges Kind. Hatte kleine Papierbällchen in der Gegend herumgeworfen. Die Mädchen in den Arm gekniffen. Heute würde man sagen, er sei auffällig, vielleicht ein ADHS-Kind. Freunde hatte er nicht viele gehabt. Und er war kein guter Schüler gewesen. Hatte schon in der ersten Klasse Mühe gehabt, mitzukommen. Lesen, schreiben, rechnen. Alles sehr schwierig für ihn. Hatte sie ihn gerngehabt? Schwierig zu sagen. Sie konnte nicht alle Kinder gernhaben, hatte aber immer versucht, gerecht zu sein. Keinen Schüler zu bevorzugen, keinen zu benachteiligen. Aber sie war auch streng gewesen. Es gab Regeln und die galten. Wer dagegen verstieß, erhielt eine Strafe. Natürlich hatte sie sich ab und zu Gedanken darüber gemacht, was aus den Kindern, die in der ersten Klasse zu ihr kamen und sie nach der dritten wieder verließen, einmal werden würde. Aber sie hatte keine Prognosen gestellt. Mit sieben, acht, neun Jahren ist sehr vieles offen. Ein Kind kann sich entwickeln, ein anderes sich verschließen. Sie hatte auch für diesen Schüler keine Prognose gewagt. Wie alle anderen konnte er es schaffen. Aber sie hatte keine Ausnahme für ihn gemacht. Obwohl sie gewusst hatte, dass er in schwierigen Familienverhältnissen lebte. Alle Kinder gleich behandeln. War das richtig gewesen? Er hatte eine Unterschrift gefälscht. Ungeschickt. Er hätte eine schlechte Note zu Hause unterschreiben lassen sollen. Vielleicht hätte er dafür Ohrfeigen kassiert. Die Fälschung hatte sie natürlich sofort bemerkt. Sie hatte ihn nach der Stunde dabehalten und es ihm auf den Kopf zu gesagt. Der Kleine hatte zu weinen begonnen und es zugegeben.
    »Ich werde das deinen Eltern mitteilen müssen«, hatte sie ihm erklärt.
    Er hatte sie gebeten, es nicht zu tun. »Ich werde es nie mehr machen!«, hatte er unter Tränen versprochen. »Aber sagen Sie es nicht meinen Eltern. Mein Vater schlägt mich.«
    Sie hatte sich nicht erweichen lassen. Der Kleine war dann drei Tage nicht zur Schule gekommen. Sie hatte ihn nicht gefragt, warum. In den drei gemeinsamen Jahren hatte sie kein gutes Verhältnis zu ihm aufbauen können, und als er in der vierten Klasse die Schule wechselte, hatte sie ihn aus den Augen verloren.
    Sie hatte nie mehr an ihn gedacht. Bis sie ihn plötzlich wiedergesehen hatte. Viele, sehr viele Jahre später. Im Quartier. Sie hätte ihn natürlich nicht erkannt. Aber die Verkäuferin im Paradicsom hatte ihn bei seinem Namen genannt. Und dieser Name war ihr bekannt vorgekommen. Sie hatte den Mann ab und zu gesehen und allmählich war die Erinnerung zurückgekommen. Er schien sie nicht

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