Schrottreif
in ihren Sessel. Etwas anstrengend war es schon. Aber sie hatte geduscht, war angezogen, gekämmt und ihr weißes dichtes Haar lag zu einem ordentlichen Knoten geschlungen am Hinterkopf. Komplett ohne Hilfe. Sie ging in die Küche. Alles war da. Milch, Butter, Brot. Sie machte sich Frühstück, schaltete auch hier das Radio an und hörte zum ersten Mal seit ihrem Sturz Nachrichten. Zum Teil war von Dingen die Rede, die sie nicht verstand, weil sie nicht alles gehört hatte. Ein Selbstmordattentat, Wahlen irgendwo in Lateinamerika, ein Raserunfall im Tessin, ein Bahnstreik in Italien. Nun, alle Ereignisse der letzten zehn Tage würde sie nicht in der Zeitung nachlesen können. Aber heute würde sie endlich wieder den Tages-Anzeiger aufschlagen. Und sie würde nicht warten, bis Frau Dürst ihr die Zeitung hinaufbrachte. Sie stieg vorsichtig die Treppe hinunter, um das Blatt zu holen.
Als ihre Pflegerin eine halbe Stunde später kam, fand sie ihren Schützling am Küchentisch sitzend, beim zweiten Milchkaffee, die Lesebrille auf der Nase, die Zeitung lesend.
»Aha, auferstanden!«, sagte sie. »Das ist jetzt aber plötzlich gegangen.«
»Lange genug«, brummte Frau Zweifel, »aber seit heute Morgen bin ich wieder klar im Kopf. Keine Schmerzen, kein Schwindelgefühl.«
»Schön, aber übernehmen Sie sich nicht«, gab die Spitex-Frau zu bedenken. »Ein bisschen schonen müssen Sie sich weiterhin. Bleiben Sie heute zu Hause, abgesehen von einem kurzen Besuch bei Doktor Hefti, damit er schauen kann, ob Sie wirklich wieder in Ordnung sind. Ich werde Sie anmelden.«
Mittags kam Raffaela vorbei. Sie hatte von Frau Dürst gehört, dass es ihrer Großtante besser ging, und brachte zur Feier des Tages eine Schale mit Sushi-Häppchen aus der Migros Gourmessa, die Salome so gerne aß, und ein Stück Apfelstrudel aus dem Paradicsom um die Ecke. Viel Appetit hatte die alte Frau nicht, aber sie aß dennoch recht vergnügt ein paar Sushis.
»Was ist alles geschehen in den letzten Tagen?«, fragte sie. »Habe ich irgendwas verpasst?«
Raffaela nahm sich zusammen. »Ach was«, winkte sie ab, »lass es dir jetzt einfach gut gehen. Ruh dich noch aus. Schau, ich habe dir ein Hörbuch mitgebracht. Eine Krimigeschichte von Friedrich Dürrenmatt. Gelesen von Bruno Ganz. Den magst du doch.«
Ja, den mochte sie. Und jetzt mochte sie auch wieder zuhören, wenn ihr Kopf sich endlich wieder anständig benahm.
»Übrigens«, bemerkte Raffaela vor dem Gehen. »Weißt du, wo du dein Handy gelassen hast? Ich wollte es dir auf den Nachttisch legen, als du krank warst, aber ich habs nicht gefunden.« Salome Zweifel grübelte, und wusste plötzlich wieder, dass sie über etwas nachdenken musste. Und das hatte mit dem Handy zu tun. Raffaela hatte es eilig, sie musste wieder zur Arbeit, war nur in ihrer Mittagspause schnell zu ihr gekommen. Salome Zweifel setzte sich in ihren Sessel. Jetzt galt es, den Anschluss wiederzufinden. Irgendetwas war gewesen. Das Handy. Das kleine Mädchen Adele. Seppli. Ihr ehemaliger Schüler. Valerie. Der Fotowettbewerb. Bruchstückhaft kamen die Erinnerungen zurück. Sie hatte im FahrGut Aufnahmen gemacht. Das war, sie schaute in ihrem Taschenkalender nach, an einem Mittwoch vor fast zwei Wochen gewesen. Aufnahmen. Von Seppli. Später hatte sie das kurze Video angeschaut, auf der Bank vor dem Geschäft. Aber der kleine Hund war nicht darauf gewesen.
Salome ging ins Schlafzimmer hinüber, wo auf einem kleinen Pult ihr Laptop stand. Den hatte sie lange nicht mehr eingeschaltet. Sie klickte den Browser an, nicht den Internet Explorer, sondern Mozilla Firefox, der sei besser, hatte Raffaela versichert. Sie musste ihre E-Mails abrufen. Das Passwort. Nun kam ihr das Gespräch mit Valerie Gut über Passwörter in den Sinn. Sie hatte tatsächlich ein narrensicheres gefunden; genau richtig für eine alte vergessliche Närrin, dachte sie selbstironisch. Und sie wusste es noch. Der Sturz hatte also ihr Gehirn nicht komplett durcheinandergebracht. Nun kam es darauf an. Ihr Herz klopfte, als sie wartete, dass sich die Seite mit ihren E-Mails öffnete. Sie atmete tief aus. Es war da. Sie hatte sich vorhin nicht mehr erinnern können, ob sie die Aufnahme an ihre E-Mail-Adresse gesendet hatte oder nicht. Sie hatte. Sie wusste nicht mehr, ob sie das Video anschließend von ihrem Handy gelöscht hatte, wie sie es meistens gleich tat. Hoffentlich. Denn offenbar war es verschwunden. Hatte sie es auf der Bank liegen gelassen? Gut
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