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Schrottreif

Schrottreif

Titel: Schrottreif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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mehr zu kennen. Oder vielleicht tat er nur so. Hatte bei der ersten Begegnung, als er den Paradicsom verlassen hatte, in seinem Blick für den Bruchteil einer Sekunde etwas aufgeblitzt? Jedenfalls hatten sie sich nicht gegrüßt. Es war ihr lieber so. Sie hatte es, bis heute, vermieden, genauer über jene Szene nachzudenken. Diese Geschichte hatte im Hintergrund gelauert und ihr ein wenig Unbehagen bereitet. Ein wenig, ja, Schuldgefühle. Ein schlechtes Gewissen. Es war das, was die Kinder hatten, wenn sie die Aufgaben abgeschrieben hatten, statt sie selbst zu lösen. Oder wenn sie zu spät kamen. Oder mit einem Spickzettel ertappt wurden. Jetzt hatte sie, die alte Lehrerin Salome Zweifel, ein schlechtes Gewissen.
    Was sollte sie machen? Das Video löschen? So tun, als ob sie nichts gesehen hätte? Das ging nicht. Aber das Nächstliegende, das ging ebenso wenig. Sie überlegte hin und her. Sie musste an beide Seiten denken. Oder an drei, eigentlich. Auch wenn es für vieles endgültig zu spät war. Zu spät, um es wiedergutzumachen. Aber vielleicht konnte sie doch noch jemandem helfen. Und etwas Unrechtes, das geschehen war, wieder in Ordnung bringen. Sie wusste plötzlich, was sie tun musste. Sie nahm das Telefon zur Hand und wählte. Sie hatte Glück. Danach wollte sie für eine Weile nicht weiter nachdenken. Sie legte die CD ein, die Raffaela ihr mitgebracht hatte, und hörte der angenehmen Stimme von Bruno Ganz zu, die von einem frisch pensionierten Kommissar las, der Übeltäter besuchte, die er in der Vergangenheit hatte laufen lassen. Nach einer Weile schreckte sie auf. Sie war eingenickt. Sie schaute auf die Uhr. Sie hatte eine ganze Weile geschlafen. Nun ging sie in die Küche. Setzte in einer Pfanne Wasser auf. Nahm eine Aluschale aus dem Kühlschrank. Wärmte sie im Wasserbad. Setzte sich. Aß. Großen Hunger hatte sie nicht. Sie wusch das Geschirr ab. Schaltete den Fernseher ein. Dann war es endlich Zeit.
    Sie band sich die Schuhe zu und schlüpfte in den Mantel. Ging die Treppe hinunter. Es war dämmrig. Sie trat aus dem Haus; es lag kein Zeitungsbündel da. Sie wandte sich nach links. Das Herz war ihr schwer, sie hatte ein wenig Angst, aber sie fühlte sich doch zuversichtlich. Sie bog in einen Innenhof ein.

Mittwoch, 4. Woche
    1. Teil
    Um 3 Uhr begann es leicht zu regnen. Um 5 Uhr wurde Salome Zweifel gefunden. Sie war klein und mager, weißhaarig, in einen kamelhaarfarbenen Mantel gehüllt, ein dunkles Bündel an einer Hausmauer in der Zentralstrasse. Ein Passant, auf dem Weg zum ersten Tram an der Schmiede Wiedikon, bemerkte sie. Eine alte Frau. Sie atmete nicht. Ihr Gesicht war kalt. Ihre Hände waren bläulich und steif. Der Mann, ein junger, aus Nigeria stammender Bauarbeiter namens Amadou Huber, der auf dem Weg zur Arbeit war, alarmierte die Polizei.
    Zita Elmer rief sofort Streiff an. Eine halbe Stunde später war er da. Sie schauten auf den schmalen Körper, auf das Gesicht, dem der Tod einen strengen Ausdruck verlieh. Dann wurde Frau Zweifel weggetragen, in die Rechtsmedizin gebracht. Es war nicht sicher, dass sie an dem Ort gestorben war, wo sie aufgefunden wurde. Zu sorgfältig war der kleine Körper an der Hausmauer platziert. Wenn sie auf dem Nachhauseweg zusammengebrochen wäre, hätte sie wohl eher in der Mitte des Trottoirs gelegen. Warum war sie überhaupt aus dem Haus gegangen? Wollte sie einfach einen kleinen Spaziergang machen? Oder hatte sie ein bestimmtes Ziel gehabt? Das war eher unwahrscheinlich, denn sie war ja zehn Tage krank gewesen. Hatte sie zufällig jemanden angetroffen?
    Eine erste Durchsuchung ihrer Wohnung ergab nicht viel Auffälliges. Außer dass der Laptop fehlte. Auf dem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer entdeckte Streiff ein ADSL-Kabel, ein Netzteil und eine Maus, aber der Computer fehlte. Vielleicht war er in Reparatur? Das musste jedenfalls abgeklärt werden. Es waren verschiedene Fingerabdrücke gefunden worden. Eine Nachbarin hatte Elmer gesagt, dass neben Frau Zweifel in der letzten Zeit ihre Großnichte, eine Spitex-Angestellte, der Hausarzt, die Putzfrau und auch sie selbst ab und zu in der Wohnung gewesen waren.
    Streiff und Elmer, wieder zurück auf der Regionalwache, schauten sich ratlos an. Eben waren erste Informationen von der Rechtsmedizin eingetroffen. Die alte Frau war eines natürlichen Todes gestorben. Ein Herzanfall. Aber nach ihrem Ableben waren ihr, als sie am Boden lag, mehrere heftige Tritte versetzt worden, die dem toten Körper

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