Schrottreif
sie gekümmert hatte. Sie war gut versorgt gewesen, aber Valerie wünschte sich sehr, sie hätte sie ein letztes Mal sehen können, die Ladentür wäre noch einmal aufgegangen und die alte Dame wäre hereingekommen. Seppli wäre ihr entgegengetrabt, Valerie hätte ihr einen Stuhl hingestellt und sie hätten geplaudert, während sie ein Rad reparierte, sie hätte ihr Anekdoten aus dem Ladenalltag erzählt und sie nach dem Wettbewerb gefragt. Valerie biss die Zähne zusammen. Das war vorbei. Es würde nie mehr so sein.
Dieser Tod war, nach den Diebstählen, nach dem Mord in ihrem Geschäft, nach dem Geschmiere auf ihrem Schaufenster ein weiteres Stück Boden, das ihr unter den Füßen weggezogen wurde. Sie arbeitete mechanisch weiter. Auch Markus, der seine Grippe überwunden hatte, und Luís erledigten ihre Aufgaben schweigend.
Die Tritte gingen Valerie nicht aus dem Kopf. War Frau Zweifel ein zufälliges Opfer gewesen oder hatte die Misshandlung doch ihr persönlich gegolten? Wieder ging ihr jener Mittwoch durch den Kopf, an dem sie Frau Zweifel zum letzten Mal gesehen hatte. Der Trubel im Laden, die verschwundenen 4.000 Franken, und am nächsten Morgen die Entdeckung des Mordes. Frau Zweifels Handy, mit dem sie im Laden fotografiert hatte und das plötzlich verschwunden war. Und jetzt war sie tot und nach dem Tod misshandelt worden. Sie hatte Streiff noch immer nichts von den Handyaufnahmen erzählt. Nun musste sie es endlich tun. Egal, ob er ihre Idee unsinnig fand oder ihr, im Gegenteil, böse war, weil sie sie so lange zurückbehalten hatte.
Eine Viertelstunde später stand Streiff im Laden.
»Du hast dich mit Frau Zweifel unter anderem über ihre Versuche am Computer unterhalten. Hast du ihr auch geholfen?«
»Nein«, gab Valerie zur Antwort, »das hat ihre Großnichte Raffaela gemacht, die hat alles für sie eingerichtet.«
»Du hast keine Idee, warum ihr Laptop aus der Wohnung verschwunden sein könnte?«
Valerie schüttelte den Kopf. Plötzlich hielt sie inne. Ihr wurde heiß und kalt. Frau Zweifels Laptop war verschwunden? Der Laptop, auf dem sie ihre Aufnahmen speicherte? Meine Spur, dachte sie, der ich selbst nachgehen wollte. Ich hätte es Beat längst sagen müssen.
»Komm, wir gehen ins Café«, sagte sie. »Ich muss dir unter vier Augen was erzählen.«
Streiff hörte sich Valeries Bericht an, ohne sie zu unterbrechen. Aha, dachte er, endlich, das könnte es sein, das Detail, bei dem man einhaken kann. Sie sah ihn nicht an, während sie redete. »Es tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Wenn ich es dir früher berichtet hätte, würde Frau Zweifel womöglich noch leben. Dann hättet ihr mit ihr reden und den Laptop überprüfen können. Ich bin vielleicht schuld daran, dass sie sterben musste.«
»Hör auf, so zu denken«, widersprach Streiff. »Frau Zweifel ist nicht umgebracht worden. Über die Umstände ihres Todes wissen wir bisher nichts Genaues. Und falls jemand ihr Sterben verursacht hat, liegt die Verantwortung bei jener Person, nicht bei dir. Aber es ist schon gut, dass du endlich damit herausgerückt bist.«
3. Teil
Um 13.30 Uhr klingelte das Telefon. Markus reichte seiner Chefin den Hörer. »Goldfarb«, beschied er knapp. Valerie hatte es bis jetzt nicht über sich gebracht, Markus zu sich zu zitieren. Sie musste warten, bis wieder ein wenig Ruhe eingekehrt war. Auch in ihr selbst. Hoffentlich bald, obwohl es im Moment nicht so aussah. Aber sie betrachtete ihren Angestellten jetzt mit anderen Augen.
Adeles Vater war am Apparat. Ob das Mädchen mittags im FahrGut gewesen sei?
»Nein«, sagte Valerie, »warum?«
Sie habe nach der Schule vor dem Mittagessen rasch im Laden vorbeikommen wollen, um eine neue Veloglocke zu kaufen. Sie sei nicht nach Hause gekommen. Valerie befragte ihre Angestellten. Keiner der beiden hatte Adele heute gesehen, weder im Geschäft noch auf der Straße.
»Es tut mir leid«, sagte Valerie hilflos. »Wahrscheinlich ist sie bei einer Freundin.« Haben Sie sie auf dem Handy angerufen, wollte sie fragen, aber dann fiel ihr ein, dass Adele keines besaß. Er würde das Mädchen weitersuchen, sagte Simon Goldfarb. Valerie versicherte, sie würde sich sofort melden, wenn Adele auftauchte. Angst wollte sich in ihr ausbreiten, aber sie rief sich streng zur Ordnung. Das Mädchen wurde erst seit anderthalb Stunden vermisst. Bestimmt war sie bei einer Schulkollegin oder sie hatte auf dem Heimweg eine Katze getroffen, mit der sie spielte, oder sie hatte
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