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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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essen, mehr noch: das muß ich essen. Als ich davon abgebissen hatte und dazu einen Schluck Tee trank, zuckte ich zusammen, und eine plötzliche eigenartige Euphorie breitete sich in mir aus. Ich hatte das Gefühl, daß von irgendwoher, von diesem Törtchen?, vom Tee?, ein Lichtstrahl in mein Inneres fiel, der nun das Rätsel, wer ich sei, aufklären werde, und tatsächlich, mit einem Mal hatte ich Bilder vor Augen und dachte Sätze, die mir vertraut waren, wenn ich auch nicht gleich wußte
    Was für Sätze?
    Ich sah ein graues Haus mit seiner Straßenfront, ich sah es wie ein Stück Theaterdekoration und dachte dabei diese Formulierung, dann sah ich in meiner Vorstellung einen kleinen Anbau hinten an diesem Haus, dazu dachte ich den Satz, daß er für meine Eltern errichtet worden war, und mit dem Haus tauchte die Stadt auf, der Platz, ich dachte: »der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte«, die Straße, die Kirche, ganz Combray und seine Umgebung
    Ganz was?
    Warte! Ich dachte: »Ganz Combray und seine Umgebung«, – Combray? Habe ich mich gefragt, Combray? Es war mir alles bekannt und doch so fremd, die Bilder waren sehr abstrakt, sehr allgemein, ohne wirkliche Details, aber die Sätze, die mir dazu einfielen, vermittelten mir das Gefühl einer großen Bestimmtheit, die überhaupt nicht zu den ungenauen Bildern paßte, Sätze wie »deutlich und greifbar stiegen die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee«. Ich starrte die Teetasse an, die vor mir auf dem Tisch stand, das halbe Törtchen, das daneben auf einem kleinen Unterteller lag, ich wußte, ich kannte das und irgendwie doch nicht, habe ich solche Törtchen früher schon einmal gegessen? Welche Erinnerungen verbinden sich damit? Kindheitserinnerungen? War es in diesem Haus in Combray? Unentwegt dachte ich Combray, Combray, aber das Gefühl der Vertrautheit begann sich wieder zu verflüchtigen, rasch nahm ich noch einen Bissen, noch einen Schluck Tee, schob die breiige Masse andächtig und neugierig im Mund hin und her, wartete, daß deren Geschmack mir die Erinnerung deutlicher vor Augen setzte, die offenbar zu diesem Geschmack gehörte. Combray, dachte ich, wie schreibt man diesen Ortsnamen eigentlich? Ich versuchte ihn mir geschrieben vorzustellen und – plötzlich war die Erinnerung da: Ich bin nicht der, der eine Kindheit in Combray hatte – ich bin der, der das gelesen hat. Und in diesem Augenblick sah ich klar und deutlich die Wohnung, in der ich als Student gewohnt habe, ich sah sie in allen Einzelheiten, und ich sah mich selbst darin sitzen und lesen, ein junger Student in Wien, der die großen Romane der Weltliteratur verschlingt und – er stutzte. Er sah das jetzt wirklich vor sich, er sah –
    Und?
    Und nichts, das war es, sagte er irritiert. Durch das plötzliche Aufsteigen von Erinnerungsbildern, die nicht die meinen waren – selbst der Mechanismus, der diese Erinnerungen auslöste, war geborgt –, weiß ich, nein, wußte ich auf einmal wieder, wer ich war und woher ich kam.
    Nun sagte er nichts mehr und starrte sie an, in Erwartung einer Reaktion. So hatte er einmal, als Kind, an einem öden verregneten Ferientag, das Reagenzglas angestarrt, in das er zwei Flüssigkeiten aus seinem Chemiekasten geschüttet hatte, um zu sehen, was dann passiert. Er wunderte sich, daß ihm das einfiel, und er sah nun nicht mehr sie, sondern sich selbst, wie er starrte, mit dieser eigentümlich kalten kindlichen Neugier-Angst. Nichts ist passiert, sein Chemiekasten ist kindersicher gewesen.
11.
    Sie sind meschugge. Meiner Meinung nach sind Sie völlig meschugge. Erschrocken drückte sie die STOP-Taste des Diktiergeräts, nahm den Kopfhörer ab, beugte sich über die Schreibmaschine und las, was sie eben getippt hatte: An das Finanzamt für den 6., 7. und 15. Bez. Betr.: Ansuchen um Erstreckung der Frist zur Steuererklärung 1988. Sehr geehrte Herren. Sie sind meschugge. Sie setzte den Kopfhörer wieder auf, spulte das Tonband zurück und hörte sich nochmals an, was Dr. Weixelbaum diktiert hatte. Sie mußte sich verhört haben. Hatte sie nicht. Er hatte es gesagt. Sie hörte weiter zu, die Hände nun nicht auf der Tastatur, sondern auf ihrem Schoß, dann, immer noch zuhörend, riß sie mit einem Ruck das Papier aus der Maschine und warf es in den Papierkorb, hörte zu, mir durch den Kopf gegangen und ich mußte Ihnen ich meine wir kennen uns nun schon so lange daß ich mich berechtigt fühlte verpflichtet fühlte Ihnen meine Bedenken

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