Schuechtern
geschah mittels sogenannter ‹geheimer Abstimmungen›, bei denen sich unser Leiter, angeblich um das Wahlgeheimnis zu wahren, die Hände vor die Augen hielt − aber natürlich wussten oder vermuteten wir alle, dass er insgeheim durch seine Finger spähte und uns beobachtete: Es kann also nicht weiter überraschen, dass er bei diesen Abstimmungen eine Bestätigung erfuhr, wie sie sonst nur den Einheitsparteien autoritärer Staaten zuteil wird.
Eine andere, etwas subtilere Methode der Disziplinierung bestand darin, dass wir ununterbrochen mit einem Wust aus chorspezifischen Merksätzen, Sprüchen und Kunstwörtern bombardiert wurden, die bald zu einem selbstverständlichen Teil unseres Wortschatzes wurden und uns zu einer eingeschworenen Sprachgemeinschaft mit eigenen Ausdrücken und Regeln machten. Wenn eine Probe auf drei Uhr nachmittags angesetzt war und man Punkt drei erschien, war die Probe unweigerlich schon in vollem Gange und wurde allenfalls unterbrochen, um dem Zuspätkommenden den öligen Slogan «Zehn Minuten vor der Zeit, ist bei uns hier Pünktlichkeit!» um die Ohren zu hauen. Wenn jemand eine Erkältung zu haben glaubte, wurde ihm unfehlbar der Merkspruch beschieden: «Ein gesunder Mensch wird nicht krank!» Die alljährlichen Freizeiten hießen natürlich ‹Freuzeiten›, weil es für heranwachsende Jungs nichts Schöneres geben kann, als bei Sommerwetter in geschlossenen Räumen geistliche Chormusik zu singen. Das Weihnachtsoratorium von Bach hieß etwas lieblos ‹WO›, während die Matthäuspassion mit dem schmissigen Akronym ‹MP› abgekürzt wurde, was bekanntlich eine gängige Bezeichnung für eine Maschinenpistole ist − ich bin mir nicht sicher, inwieweit unserem Chorleiter dieser Doppelsinn bewusst war, er passte jedenfalls ganz gut, schließlich kamen wir, was den Drill und das arrogante Wirgefühl anging, der Ausbildung in einer militärischen Spezialeinheit so nah, wie das in einem christlichen Chor eben möglich ist. Wir waren die Navy Seals unter den Sängerknaben.
«Jetzt aber mal halblang!», ruft mir da mein Über-Ich zu; und irritierenderweise trägt es unverkennbar die plastinierten Gesichtszüge von Agentin Babajaga. «Weniger sensible Naturen als du haben ihre Jahre im Chor sicher in glänzender Erinnerung! Und: Diese Vergleiche mit totalitären Systemen und militärischen Sondereinheiten gehen ja wohl, wenn ich das so salopp sagen darf, echt gar nicht. Im Vergleich zum Training bei den Navy Seals war deine Sangesausbildung doch ein Spaziergang, ein Streichelzoo, ein Ponyhof, ach, was sag ich: ein Séparée im Schlaraffenland mit Roomservice und sechzehn vestalischen Jungfrauen. Deine Jahre im Chor waren nicht etwa zu hart − du warst zu schwach! Du bist eben einfach eine verdammte Mimose, ein Sensibelchen, ein Weichei, ein Prinz auf der Erbse, ein…»
«Jaja, schon gut!», rufe ich meinem Über-Ich zu und gebe ihm sofort in allen Punkten recht − frage mich aber insgeheim, ob die Tatsache, dass ich eine solche KGB-Kratzbürste als internalisierte moralische Instanz im Kopf habe, nicht Beweis genug ist, dass die Zeit im christlichen Knabenchor mein Selbstwertgefühl eben doch nachhaltig demoliert hat: ob mein Über-Ich also genau das performativ beweist, was es argumentativ zu widerlegen sucht (ich schreibe das so schnell wie möglich nieder, bevor mein Über-Ich diesen dialektischen Winkelzug verstanden hat).
Fest steht jedenfalls: Einen Großteil seiner Freizeit mit Chorproben zu verbringen, galt in meiner Schulklasse als ungefähr so cool, wie wenn man in seinem Zimmer statt einem Poster von, sagen wir, Nena oder der Spider Murphy Gang ein Porträt von Johann Sebastian Bach aufgehängt hätte − das hatte ich natürlich auch. Darüber hinaus spielte ich ein Musikinstrument, mit dem man, zumindest wenn man ein adoleszenter Knabe ist, nicht gerade die Herzen der stolzesten Mädchen brechen oder gleichaltrige Jungs vor Neid erblassen lassen kann; nämlich die Bratsche, ein bemerkenswert undankbares Tonwerkzeug, das hämische Bemerkungen und Witze anzieht wie die Scheiße die Fliegen.
Äußerlich mag die Bratsche der Geige ähneln, doch stellt sie den exakten Gegenentwurf zu diesem phallogozentrischsten aller Streichinstrumente dar. Die Geige ist eindeutig ein Alphatier − die Bratsche hingegen ist der Inbegriff der Schüchternheit, die Demut mit vier Saiten. Das zeigt sich schon an ihrer Tonlage: Sie ist im Altschlüssel notiert, spielt also weder besonders hoch
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