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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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noch besonders tief. Die Sopranstimmen glänzen in der Stratosphäre, die Bassstimmen bilden den unverzichtbaren Unterleib; die Bratsche treibt sich unauffällig in der Mitte des Frequenzspektrums herum. Bescheiden füllt sie die Lücke zwischen dem profilneurotischen Kreischen der Violinen und dem testosteronschweren Raunen der Celli und Kontrabässe. Trotz ihrer warmen Tonfarbe ist sie daher merkwürdig asexuell, weder weiblich noch männlich. Kein Wunder, dass kaum jemand sie so richtig mag.
    Ich muss gestehen, dass ich mich als Heranwachsender meiner Bratsche zutiefst schämte. Wenn ich mit dem Fahrrad zum Musikunterricht fuhr, versteckte ich meinen Bratschenkasten in einer alten Tennistasche, um nicht wegen des unattraktiven Instruments, das ich bei mir führte, von anderen verlacht zu werden. Ich zurrte die Tasche dabei stets besonders nachlässig auf dem Gepäckträger fest, in der heimlichen Hoffnung, die Bratsche möge bei der Fahrt, die über holprige Waldwege und Pflastersteine führte, zufällig Schaden nehmen oder verloren gehen − aber diesen Gefallen tat sie mir nie. Sie war ebenso robust wie anhänglich, und so spiele ich sie noch heute.
    Ja, ich habe mich über die Jahrzehnte sogar mit meinem Schicksal abgefunden und beschlossen, dass meine Bratsche und ich recht gut zusammenpassen. Die meisten Musiker nähern sich im Lauf ihres Lebens ja ihrem Instrument an − wie die irischen Dorfpolizisten in dem Roman The Third Policeman von Flann O’Brien, die so viel Zeit auf dem Sattel ihrer Fahrräder verbringen, dass sie durch molekularen Austausch allmählich selbst zu Fahrrädern werden und sich, wenn sie stehenbleiben, gegen eine Wand lehnen müssen, damit sie nicht umfallen. Gerade bei älteren Musikern weiß man oft nicht mehr, wo der Mensch aufhört und wo das Instrument anfängt, wer hier eigentlich wen spielt, ob der Posaunist den Zug seines Instruments bedient oder umgekehrt sein Arm von der Posaune im Rhythmus der Musik vor und zurück geschoben wird; und wenn man sieht, wie Keith Richards mit seinen beinahe siebzig Jahren über die Konzertbühnen fegt, fragt man sich manchmal schon, ob der Rolling-Stones-Gitarrist nicht schon lange tot ist und nur dadurch, dass er mitsamt seiner E-Gitarre in die Steckdose gestöpselt wird, wieder zum Leben erwacht.
    Worauf ich hinaus will: Meine Bratsche und ich sind über die Jahre eine Symbiose eingegangen; wir haben uns in unserer schüchternen Mittelmäßigkeit behaglich miteinander eingerichtet. Manchmal habe ich geradezu das Gefühl, dass meine Bratsche, wenn ich sie ans Kinn führe, wie eine Art Tarnhelm funktioniert: Gemeinsam sind wir so unauffällig, dass wir unsichtbar werden, einander auslöschen. Nur so ist mir erklärlich, weshalb ich immer wieder von Menschen, die schon mehrmals bei Auftritten meiner Gruppe Fön waren, gefragt werde, ob ich eigentlich die Typen von Fön kenne. Man muss dazu wissen, dass es sich bei Fön nicht etwa um eine Bigband handelt, sondern dass wir gerade einmal zu viert auf der Bühne stehen, und dass ich bei den meisten unserer Stücke ununterbrochen auf der Bratsche herumschabe. Ich vermute daher, dass die Bratsche aufgrund ihres unauffälligen Wesens in der Wahrnehmung mancher Menschen einfach im Bühnenhintergrund verschwindet − und das Wirtstier, das an ihrem Korpus hängt, also der Bratschist, also in diesem Falle ich, gleich mit.
    Neben meinen musikalischen Stubenhockeraktivitäten trieb ich in meiner Jugend aber durchaus auch Sport − was, zumindest in der älteren Ratgeberliteratur, immer wieder als probates Mittel zur Bekämpfung der Schüchternheit empfohlen wird; das Buch Schüchternheit, nervöse Angst = u. Furchtzustände sowie andere seelische Leiden und ihre dauernde Heilung aus dem Jahr 1907 etwa empfiehlt «methodisch betriebene Atemgymnastik» zur «Stärkung des Kraftgefühls». Unter anderem spielte ich viele Jahre lang Handball, muss aber leider sagen, dass dies nicht unbedingt zu einer Steigerung meines Kraft- oder gar Selbstwertgefühls führte, da ich für diese Sportart schlicht und ergreifend zu wenig durchsetzungsfähig war und daher viel Zeit auf der Ersatzbank verbrachte. Oder, und hier lugt wieder die eingangs gestellte Frage nach Henne und Ei hervor: War ich so wenig durchsetzungsfähig, weil ich so ein niedriges Selbstwertgefühl hatte?
    Auf jeden Fall lässt sich im Nachhinein sagen, dass ich für eine so konfrontative und körpereinsatzfreudige Sportart wie Handball einfach nicht der

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