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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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Richtige war. Ich spielte auf der Position des Linksaußen, weil ich mich nur an der Seitenauslinie, über die man jederzeit das Spielfeld hätte verlassen können, einigermaßen sicher fühlte. Darüber hinaus pflegte ich die trügerische Hoffnung, mich auf dieser Position am Feld des Gegners vorbeischleichen, ohne Feindkontakt den gegnerischen Strafraum erreichen und dort ungehindert in den Kreis springen und ein Tor erzielen zu können. Wenn ich mich recht erinnere, gelang mir dies in meiner immerhin sieben Jahre währenden Handballkarriere ungefähr null Mal.
    Desillusioniert beschloss ich, die Seite zu wechseln, und meldete mich beim Deutschen Handballbund für einen Schiedsrichterlehrgang an. Diese Idee war so hirnrissig, dass mir noch heute die bloße Erinnerung daran den Atem raubt − genauso gut hätte ich mich als Pausenhofaufsicht an einer Schule für verhaltensauffällige Jugendliche bewerben können. Wer schon einmal ein Handballspiel gesehen hat, weiß, dass man bei dieser Sportart als Schiedsrichter ungefähr alle fünf Sekunden einen Regelverstoß ahnden oder irgendeine andere unangenehme Entscheidung fällen muss; und wer schon mal ein D-Jugend-Kreisligaspiel besucht hat, weiß, dass diese Entscheidungen stets von einem Pfeif- und Schimpfkonzert der anwesenden Eltern, Brüder, Freunde, Trainer und Auswechselspieler begleitet sind. Rein rechnerisch zieht man als Schiedsrichter mit jeder Entscheidung den Unmut von fünfzig Prozent der Anwesenden auf sich.
    Nun: Ich glaube, dass es mir bei manchen Spielen sogar gelang, hundert Prozent der Anwesenden auf einmal gegen mich aufzubringen − weil ich nämlich einfach nicht den Mut aufbrachte, auch nur irgendeine Entscheidung zu fällen. Untätig stand ich nach Fouls auf dem Spielfeld herum und sah zu, wie sich der gefoulte Spieler mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden wand, unfähig, die Trillerpfeife auch nur zum Mund zu führen… denn sobald ich das tat, musste ich ja pfeifen, und sobald ich pfiff, musste ich eine Entscheidung fällen, und wenn ich eine Entscheidung fällte, würde die Hälfte der Anwesenden mit meiner Entscheidung unzufrieden sein, und das war eine Aussicht, die mich vollkommen blockierte. Ich wollte doch niemanden verletzen! Dass die Spieler gerade aufgrund meiner Angst, jemandem seelisch wehzutun, vermehrt körperlich Schaden nahmen, war ein Widerspruch, den ich billigend in Kauf nahm.
    Es ist vermutlich müßig zu erwähnen, dass der Deutsche Handballbund bald beschloss, auf meine segensreiche Tätigkeit als Schiedsrichter zu verzichten. Wahrscheinlich wäre ich bei einer weniger körperkontaktintensiven Sportart wie Schach weitaus besser aufgehoben gewesen. Allerdings nur, wenn das Spiel so rücksichtsvoll gespielt worden wäre wie in Samuel Becketts Roman Murphy , wo am Ende der Partie immer noch sämtliche Figuren auf dem Brett stehen, da keiner der Spieler es übers Herz bringt, die Steine seines Gegners zu schlagen.
    Auch die jahrelange Beschäftigung mit geistlichem Liedgut, das allmähliche Verholzen und Verwachsen mit meiner Bratsche sowie der regelmäßige Testosteronabbau durch Sport konnten jedoch nicht verhindern, dass ich mich irgendwann für das zu interessieren begann, was Schopenhauer launig als «Knalleffekt» der Natur bezeichnete. Allerdings blieb dieses Interesse lange Zeit nur theoretisch: So muss ich etwa drei Jahre, von der siebten bis zur neunten Stufe, in ein Mädchen aus meiner Klasse verliebt gewesen sein, ohne jemals auch nur annähernd in die Gefahrenzone des Gedankens geraten zu sein, ihr gegenüber irgendwelche in diese Richtung gehenden Andeutungen zu machen. Jemandem seine Liebe zu erklären erschien mir so abwegig und abenteuerlich wie, sagen wir, jemandem den Krieg zu erklären oder seinem Physiklehrer die Heisenbergsche Unschärferelation. Das offensivste Zeichen meiner Zuneigung war, dass ich für meinen Füller ausschließlich Tintenpatronen kaufte, welche die Farbe ihrer Lieblingsjacke hatten. Aber es hätte schon des Schlussfolgerungsvermögens eines Sherlock Holmes bedurft, um daraus so etwas wie eine Liebeserklärung abzuleiten, zumal ich mit meiner türkisfarbigen Tinte keine Liebesgedichte oder feurigen Billetsdoux schrieb, sondern nur lateinische Stammformreihen (welche Schlussfolgerungen ein Sigmund Freud aus dem Motivkomplex Tinte−Feder−Füller gezogen hätte, war mir zum Glück damals noch nicht bewusst, sonst hätte ich vermutlich vor Scham all meine Vokabelhefte

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