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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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verbrannt).
    Ich glaube, ich hielt diesen Umgang mit Gefühlen für den einzig richtigen, ja möglichen − bis ich eines schicksalhaften Abends auf der Party eines Schulfreundes auf denkbar grausamste Weise den Spiegel vorgehalten bekam: Wir saßen in einem Kellerraum, tranken klebrigen, türkisfarbigen Likör (es waren die Achtziger, damals war in Westdeutschland so ziemlich alles türkis), und irgendwann, als die Flasche leer war, kam es, wie es kommen musste: Irgendjemand schlug vor, sich im Kreis auf den Boden zu setzen, die Flasche in die Mitte zu legen, sie wie einen Kreisel in Bewegung zu setzen und denjenigen, auf den zu guter Letzt ihr Hals wies, zu einer peinlichen Antwort oder Handlung zu verdonnern − mithin jenes schreckliche Gesellschaftsspiel zu spielen, das bei uns unter dem Namen ‹Wahrheit oder Pflicht› firmierte.
    Worin die ‹Pflicht› bestand, war in der Regel klar: Man musste irgendjemanden küssen. Welche ‹Wahrheit› gebeichtet werden musste, war hingegen von Mal zu Mal verschieden und hing maßgeblich vom Fragesteller sowie von dem oder der Befragten ab. Als die Flaschenöffnung zum ersten Mal auf mich wies, versuchte ich noch Lockerheit vorzutäuschen und votierte tapfer auf Pflicht, scheiterte an der Ausführung aber kläglich: Statt eines Kusses auf den Mund versuchte ich, der mir zugewiesenen Klassenkameradin einen Handkuss zu geben, war dann aber nicht einmal hierzu in der Lage, drehte in letzter Sekunde ihren Handrücken nach unten und küsste meine eigene Hand, in dem irrigen Glauben, das würde keiner außer uns merken. Als die Flaschenöffnung mir ein zweites Mal entgegenstarrte, entschied ich mich daher wohlweislich für die Kategorie Wahrheit und wurde, nach allerhand getuschelten Beratungen, mit einer Frage konfrontiert, die unangenehmer war als alle Küsse, zu denen man mich hätte zwingen können: «Warum bist du so verklemmt?»
    Blicke. Schweigen. Am liebsten wäre ich wie ein Flaschengeist im Innern der leeren Likörbuddel verschwunden. Denn zum einen war ich noch nie in dieser Offenheit mit meiner Schüchternheit konfrontiert worden; ich glaube sogar, dass ich bis zu diesem Moment nicht einmal auf die Idee gekommen war, dass ich auffallend verklemmt oder schüchtern sein könnte. Und zum anderen hatte ich keine Ahnung, wie ich diese fundamentale Frage nach den Gründen für meine Charakterentwicklung beantworten sollte; selbst jetzt, ein Vierteljahrhundert später, tue ich mich mit dem Versuch einer Erklärung ja schwer. Ist es überhaupt möglich, sich oder anderen Rechenschaft darüber abzulegen, warum man so ist, wie man ist? Oder allgemeiner gefragt: Kann ein System sich selbst betrachten? Verfälscht eine solche Überlappung von Beobachtendem und Beobachtetem nicht notwendigerweise das Ergebnis? Kommt es nicht unweigerlich zu kognitiven Rückkopplungen, zu Feedbackeffekten, zu einem weißen Rauschen − bis man im Spiegel der Selbsterforschung nicht mehr sein Ebenbild sieht, sondern nur noch, in den Worten von David Foster Wallace, «ein sengendes und amorphes Licht»?
    In exakt diesen Worten stellte ich mir diese Fragen damals, vierzehn Jahre alt und beschwipst von billigem Pomeranzenlikör, natürlich nicht − aber ich war doch von dem dumpfen Gefühl erfüllt, dass mir hier eine Wahrheit abverlangt wurde, die ich beim besten Willen nicht liefern konnte. Wie sollte ich, der ich doch angeblich verklemmt war, öffentlich erklären, warum ich so verklemmt war − also eben das tun, was mir aufgrund meiner Verklemmtheit unmöglich war? Selbst ein Kuss, meinetwegen auf den Mund, meinetwegen mit Zunge und Zahnspange, meinetwegen mit dem hässlichsten Mädchen der Klasse, erschien mir in diesem Moment vergleichsweise einfach.
    Zugleich war ich paradoxerweise von einer großen Erleichterung erfüllt: Immerhin war nun klipp und klar ausgesprochen, was mich von der Mehrheit meiner Klassenkameraden unterschied. Immerhin gab es nun einen Namen, ein Label, eine soziale Rolle, die ich ausfüllen konnte. Mir war, als wäre ich vorher in einem begriffslosen Urmeer aus Charaktereigenschaften geschwommen und erst jetzt, durch diesen Akt der Benennung, an Land und ins Leben erhoben worden. Ich war verklemmt, gehemmt oder wie auch immer man es nennen mochte: Ich war schüchtern. Und während ich noch verlegen herumkicherte, stotterte und versuchte, diesen Wust an Gedanken in Worte zu fassen, drückte mir jemand die leere Flasche in die Hand, ich nahm sie dankbar, setzte sie in

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