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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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Lippenstift. Die Wand hinter ihrem Rücken ist von einem riesigen Spiegel bedeckt. Natürlich ist der Spiegel von hinten durchsichtig, auf der anderen Seite sitzen meine Eltern, mein Bruder, meine Onkel und Tanten, ein paar ehemalige Lehrer, mein Doktorvater, ehemalige Kommilitonen und Klassenkameraden, der inzwischen verstorbene Dirigent meines Knabenchors sowie eine unbestimmte Anzahl interessierter Leserinnen und Leser – ich kann sie nicht sehen, weiß aber, dass sie da sind.
    Eine Rauchwolke kräuselt sich zur Decke; als ich den Kopf wieder senke, sehe ich, dass sie aus Babajagas Mund kommt. Während ich mich noch darüber wundere, dass mein Über-Ich raucht, hat Babajaga ihren silbernen Zigarettenhalter schon wieder an die Lippen geführt, tief inhaliert und mir den Inhalt ihrer Lungen in die tränenden Augen geblasen. «Soso, Freundchen», sagt sie, «du willst also schüchtern sein.»
    «Ich will nicht», protestiere ich. «Ich bin’s.»
    Babajaga stößt verächtlich Luft durch die Nase, klemmt sich den Zigarettenhalter zwischen die Zähne und lehnt sich zurück. «Dann lass mal hören.»
    Natürlich bin ich mir manchmal unsicher, ob ich denn befugt bin, ein Buch wie das vorliegende zu schreiben. Wie passt meine vermeintliche Befangenheit mit der Selbstdarstellung, die ich bisweilen auf Bühnen und nicht zuletzt auf diesen Seiten hier betreibe, zusammen? Am nagendsten wurden diese Zweifel, als ich Gelegenheit bekam, mich im Rahmen einer psychologischen Studie als verschrecktes Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen.
    Der gelbe Zettel stach mir schon von weitem ins Auge, er hing an der Fußgängerampel vor meinem Haus: «Fühlen Sie sich in sozialen Situationen sehr unwohl?», stand da in großen Lettern zu lesen, und darunter: «Empfinden Sie in sozialen oder Leistungssituationen starke und anhaltende Angst? Befürchten Sie in solchen Situationen, dass Sie sich peinlich oder unangemessen verhalten könnten? Vermeiden Sie solche Situationen deswegen regelmäßig? Falls Sie einige dieser Fragen mit ‹Ja› beantwortet haben, erfüllen Sie eventuell die Voraussetzungen, an einer Forschungsstudie im Fachbereich Psychologie teilzunehmen.» Ja, dachte ich: Ja. Ja. Ja. Ich blickte mich unauffällig um, um sicherzugehen, dass mich auch niemand beobachtete, dann riss ich schnell einen der Zettel mit der Telefonnummer und E-Mail-Adresse des Instituts ab, die am unteren Ende des Blatts einen Bart aus Papierschnipseln bildeten.
    Doch kaum hatte ich den Zettel in meiner Hosentasche verschwinden lassen, packten mich auch schon die ersten Zweifel. Zum einen konnte ich mir absolut nicht vorstellen, mich telefonisch unter der angegebenen Nummer zu melden; der tonganische Häuptling hatte wieder ganze Arbeit geleistet. Zum anderen hatte ich aber auch Hemmungen, mich per E-Mail an das Institut zu wenden, da ich befürchtete, es könnte sich bei dem Aushang − trotz des Logos der Universität in der oberen rechten Ecke, trotz der seriös wirkenden Formulierungen, trotz der Beteuerung, dass alle Informationen «absolut vertraulich» behandelt würden − um das Werk eines raffinierten Betrügers handeln, der auf diesem Weg an die Kontaktdaten möglichst vieler Menschen zu gelangen trachtete; zumal an die Daten von Menschen, die von sich selbst behaupteten, sozial inkompetent und ergo vermutlich besonders leicht beeinflussbar zu sein. Und selbst wenn der Zettel echt sein sollte: War es nicht ein innerer Widerspruch, per öffentlichem Aushang nach auskunftsfreudigen Sozialphobikern zu suchen? Welcher wahrhaft Schüchterne würde sich schon auf einen solchen Aushang hin melden? Disqualifizierte ich mich für die fragliche Studie nicht gerade dadurch, dass ich mich für sie bewarb? Wurden also womöglich nur Menschen als Probanden ausgewählt, die sich vor lauter Schüchternheit nicht bewarben?
    Nachdem ich diese Fragen eine Woche lang in meinem Herzen bewegt und den zunehmend unleserlich werdenden Zettel in meiner Hosentasche herumgetragen hatte, kam ich endlich zu dem Schluss, dass es sich
    a) bei dem Aushang um eine seriöse Suchanfrage und
    b) bei mir um einen ernstzunehmenden Kandidaten handelte.
    Denn war nicht gerade die ständige, peinliche Selbstbefragung, und mithin auch meine Unsicherheit, ob ich schüchtern sei, ein untrügliches Anzeichen von Schüchternheit? Ja wenn ich es recht bedachte, war ich womöglich nicht nur ein ernstzunehmender, sondern geradezu ein idealer Kandidat: Schließlich war ich zwar

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