Schuechtern
wenn man sich die rotgefärbten Haare und den Lippenstift wegdenkt, verblüffend ähnlich. Und diese Marotte, den Kopf schief zu legen, kokett die Augen niederzuschlagen und dann wieder rechtzeitig zum Beginn der nächsten Strophe den Blick nach vorn zu richten, die hat sie auch von mir.
«Ich sag’s ganz nüchtern:
Ich bin so schüchtern…»
Der Text ist dämlich, der Klang schrecklich, und auch der Anblick ist alles andere als schön. Wenn ich auf der Bühne genauso peinlich wirke wie Agentin Babajaga, dann, das schwöre ich, will ich nie, nie, nie wieder öffentlich auftreten. Keine Lesungen, keine Konzerte, nichts. Wie konnte ich mich überhaupt jemals zu solchen Schamlosigkeiten hinreißen lassen? Welcher Teufel hat mich dazu getrieben, mich, meiner Scheu und Schüchternheit zum Trotz, immer wieder dergestalt zu exponieren?
Tatsächlich verfüge ich über die Angewohnheit, mich in gut ausgeleuchtete Bühnensituationen zu begeben und dort dann Dinge zu tun, für die ich mich im ‹richtigen› Leben entsetzlich schämen würde – ja die in gewöhnlichen sozialen Situationen zu tun ich nicht einmal ansatzweise in Erwägung ziehen würde. Mittelprächtig Bratsche zu spielen oder fragwürdige Verse aufzusagen, gehört dabei noch zu den lässlicheren Sünden. Peinlicher war da schon jener Videofilm, den ich mit Kommilitonen im dritten Semester Germanistik drehte, und in dem ich nach Prostituiertenart geschminkt und mit nichts als der Reizwäsche einer brasilianischen Mitstudentin bekleidet durch die Szenen turnte. Oder der Auftritt auf der Berliner Kunstmesse Art Forum, wo ich im Auftrag einer Gender-dekonstruktivistischen Kostümkünstlerin stundenlang flimsige Kleidchen zur Schau trug, die aus durchsichtigem rosafarbenem Stoff genäht und mit unzähligen Busen- und Vulva-Applikationen behängt waren.
Auch jene Performance, bei der ich meinen Bratschenbogen mit einer Handsäge vertauschte und so lange auf einer billigen Geige das Bach-Doppelkonzert spielte, bis von dem Instrument nur noch Holzsplitter und ein paar zerfetzte Saiten übrig waren, trug mir unter kammermusikalisch interessierten Bekannten wenig Begeisterung ein. Es ist wohl kaum nötig zu erwähnen, dass ich solche Aggressionen gegen die mir anvertraute Bratsche zwar schon häufiger gehegt, aber niemals offen ausgelebt habe. Die arme Violine war nur ein Stellvertreter, der Sündenbock, der für ein anderes Instrument herhalten musste. Und auch ‹ich› war, wenn ich ein unschuldiges Streichinstrument malträtierte oder in Frauenkleidern durch Seminararbeiten oder das Berliner Messegelände stolperte, natürlich nicht ich selbst.
Wie erwähnt, lassen sich soziale Begegnungen im Begriffssystem einer Theateraufführung fassen: Wir sind demzufolge nichts weiter als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne und füllen bestimmte Rollen aus, die durch die jeweilige Szene sowie von der Gesellschaft geprägte dramaturgische Konventionen vorgegeben sind. Um es mit einem geflügelten Shakespeare-Wort zu sagen: «All the world’s a stage,/ And all the men and women merely players». Schüchternheit resultiert nun gerade aus dem Gefühl, dass man seine Rolle nicht glaubwürdig ausfüllen zu können meint, dass man befürchtet, jeden Augenblick von der Bühne gebuht, verlacht oder zumindest hinter vorgehaltener Hand belächelt zu werden; um es mit einem anderen Aperçu, diesmal von Oscar Wilde, zu sagen: «The world is a stage, but the play is badly cast» − die Welt mag eine Bühne sein, aber das Stück, das darauf gespielt wird, ist schlecht besetzt.
‹Echte› Theateraufführungen, Lesungen und Performances unterscheiden sich nun von sozialen Auftritten im täglichen Leben darin, dass sie für alle Beteiligten − Darsteller und Zuschauer gleichermaßen − als uneigentlich, künstlich, eben als Aufführung erkennbar sind: Niemand glaubt ernsthaft, dass der Schauspieler, der den Ödipus spielt, mit seiner Mutter schläft, oder dass der Geisterbahnrocker Alice Cooper echten Fledermäusen den Kopf abbeißt. Nicht einmal meine dreijährige Tochter lässt sich vormachen, dass das Krokodil wirkliche Schmerzen empfindet, wenn es vom Kasper eins auf den Schädel gehauen bekommt.
Für sozial Ängstliche hat diese Übereinkunft, dass alles, was im Rahmen einer Aufführung passiert, nur im Modus des Als-ob geschieht, einen großen Vorteil: Sie werden, wenn sie auf der Bühne stehen, nur anhand ihrer künstlerischen Leistung beurteilt, nicht aufgrund
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