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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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verhaltenspsychologischen Studie dazu überredet wurden, ihre Mitmenschen zu elektrifizieren. War womöglich gar nicht ich das Objekt dieses Versuchs, sondern die Versuchsleiterin? Hatte sie sich vielleicht auf einen ganz ähnlichen Aushang hin gemeldet wie ich: «Empfinden Sie in sozialen oder Leistungssituationen starke und anhaltende Gewaltphantasien? Befürchten Sie in solchen Situationen, dass Sie sich grausam oder unmenschlich verhalten könnten?» Sollte überprüft werden, wie lange sie mich in Ungewissheit schmoren lassen, wie weit sie den Spannungsregler nach rechts drehen − wie kaltblütig sie mich schließlich mit einem Druck auf den roten Knopf in einen Goldbroiler verwandeln würde?
    Das Öffnen der Labortür unterbrach meine ungehörigen Gedanken. Die Elektroden wurden entfernt, die Versuchsleiterin lächelte freundlich, und die fachkundige Art, mit der sie mich durch den anschließenden Teil der Testung, einen zweihundert Punkte umfassenden Fragekatalog, geleitete, überzeugte mich restlos, dass es sich bei ihr tatsächlich um eine Psychologin und nicht etwa um eine gewaltbereite Psychopathin handelte. «Bitte geben Sie auf einer Skala von 1 bis 5 an, wie sehr Sie den folgenden Aussagen zustimmen: 1 = stimme gar nicht zu. 5 = stimme voll und ganz zu.»
    Es fällt mir schwer, meine wahren Gefühle zu zeigen. 5.
    Ich kann nur schwer Nein sagen. 5.
    Ich finde es wichtig, andere nicht zu enttäuschen. 5.
    Ich versuche in sozialen Situationen herauszufinden, was von mir verlangt wird, und verhalte mich dann entsprechend. 5.
    Trotzdem hatte ich weiterhin meine Zweifel – nicht an der Versuchsleiterin, sondern an der Validität der Ergebnisse, die ich ihr mit meinen Reaktionen und Antworten lieferte. Mir wurde nämlich klar, dass ich im selben Maß, in dem ich der Psychologin den aus schlechten Filmen zusammengeschusterten Part einer Folter-Domina zugewiesen hatte, begonnen hatte, selbst auch eine Rolle zu spielen: die des schüchternen Probanden. Als wäre der Zettel, auf den hin ich mich gemeldet hatte, eine Stellenausschreibung gewesen, und soziales Unwohlsein eine Schlüsselqualifikation, die ich nun unbedingt unter Beweis stellen müsste. Ich war so bemüht, die Erwartungshaltungen, die ich der Versuchsleiterin unterstellte, zu erfüllen, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, welche Antworten tatsächlich meinem Charakter entsprachen und welche ich nur gab, um meine Rolle als Schüchterner überzeugend zu spielen. Es schien mir sogar möglich, dass ich bei dem vorangegangenen Elektroschock-Test nur deshalb so geschwitzt hatte, weil ich − unbewusst, psychosomatisch − die Leitfähigkeit meiner Haut verbessern und meine Stressmesswerte nach oben treiben wollte.
    Ich finde es wichtig, andere nicht zu enttäuschen. Ich versuche in sozialen Situationen herauszufinden, was von mir verlangt wird, und verhalte mich dann entsprechend.
    Gut möglich, dass dieser vorauseilende Verhaltensgehorsam ein Beweis meiner tiefgreifenden Unsicherheit ist − aber ich konnte mich doch des Verdachts nicht erwehren, dass die Forschungsstudie, der ich mich unterzog, die Phobie, die sie untersuchen wollte, zumindest teilweise erst erzeugte. Natürlich bin ich schüchtern − aber doch nicht annähernd so sozialphobisch, wie ich…
    «Bevor du dich weiter um Kopf und Kragen redest − darf ich dich gaaanz kurz etwas fragen?», unterbricht mich Agentin Babajaga sanft, aber bestimmt, und legt die kalten Finger ihrer rechten Hand mitfühlend auf meine. Ich blicke vom Tisch auf, dessen zerkratzte Oberfläche ich während meines Monologs studiert habe, und nicke − wie sollte ich meinem Über-Ich auch irgendetwas abschlagen können?
    «Hast du dich schon mal selbst auf der Bühne gesehen?» Babajaga schaut mir tief in die Augen. Ich schüttele den Kopf. Mein Gegenüber nickt vielsagend und seufzt. «Ich nämlich schon.»
    Mit einer Behendigkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte, springt Agentin Babajaga unvermittelt von ihrem Klappstuhl auf, stellt sich etwas zu breitbeinig hin, so wie ich das bei Auftritten auch immer mache, ergreift ihre silberne Zigarettenspitze, als wäre sie ein Mikrophon, und singt mit windschiefer Stimme gegen das brennende Ende der Kippe:
    «Ich bin so schüchtern,
    Sch-sch-sch-schüchtern…»
    Ihre Stimme klingt grauenhaft, ist aber meiner, wie ich mit wachsendem Entsetzen feststellen muss, nicht unähnlich. Ja wenn ich es recht bedenke, singt Agentin Babajaga genau wie ich. Sie sieht mir auch,

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