Schuechtern
schüchtern genug, um eine harmlose E-Mail tagelang furchtsam hinauszuzögern − aber doch wieder nicht so schüchtern, dass ich sie überhaupt nicht schreiben würde. Vielleicht bewohnte ich ja als einer von wenigen Erwählten jenen schmalen Grat, der zwischen der Welt der gerade-noch-mitteilsamen Schüchternen und jener der komplett kommunikationsunfähigen Sozialphobiker verläuft. Vielleicht konnte ich der Wissenschaft gute Dienste leisten! Als ich endlich die E-Mail verfasst und nach dreimaligem Gegenlesen auf den Send-Button gedrückt hatte, fühlte ich mich, als hätte ich gerade dem Organtransplantationszentrum der Universität meine Leber vermacht.
Trotzdem ließ mich die Angst, ich könnte als Hochstapler entlarvt und in hohem Bogen aus dem Untersuchungslabor geworfen werden, während der zweitägigen ‹Testung›, der ich mich einige Wochen später am Psychologischen Institut einer Berliner Universität unterzog, nicht mehr los. Jeden Moment rechnete ich damit, dass die verdächtig freundlich wirkende Versuchsleiterin mir die Maske vom Gesicht reißen und zurufen könnte: «Ha! Sie sind entlarvt! Sie sind überhaupt nicht schüchtern! Sie fühlen sich in sozialen Situationen doch pudelwohl!»
Am schlimmsten waren meine Ängste während jenes Abschnitts der Versuchsreihe, bei dem offenbar getestet werden sollte, wie ich auf Strafe oder zumindest die Möglichkeit von Bestrafung reagiere − eine Kategorie, die für Schüchterne eine wichtige Rolle spielt, schließlich befürchten sie, auch wenn sie nichts Unrechtes getan haben, andauernd empfindliche Sanktionen. Für diesen Versuch wurde ich an mehrere Elektroden angeschlossen: zwei an der linken Hand, welche die Leitfähigkeit meiner Haut und damit vermutlich mein Stresslevel registrieren sollten. Und zwei am Zeigefinger der rechten Hand: Durch sie wurden mir in regelmäßigen Abständen kleine Elektroschocks verabreicht, die, so die Versuchsleiterin, zwar «unangenehm sein, aber keine Schmerzen verursachen» sollten. Dann wurde ich im Laborraum allein gelassen und musste mir dreißig Minuten lang die immer gleichen zwei Fotos anschauen, die abwechselnd auf einem Bildschirm vor mir eingeblendet wurden. Schnell wurde mir klar, dass dies eine sehr lange, sehr unangenehme halbe Stunde werden würde.
Schlimm waren nicht so sehr die Stromschläge, die ich alle paar Minuten erhielt − schlimm war die bodenlose Tristesse des Büro-Interieurs, das auf den Fotos zu sehen war: Anscheinend war dem Psychologen, der die Studie entworfen hatte, nichts Besseres eingefallen, als für die Versuchsreihe seinen eigenen trostlosen Bildschirmarbeitsplatz abzulichten. Man sah einen Computer, man sah ein Regal aus billigem Furnierholz, man sah einen Stapel psychologischer Standardwerke. Das einzige, was sich gelegentlich veränderte, war die Farbe des Lichts, das aus der Schreibtischlampe strömte; offenbar waren die Bilder notdürftig mit Fotoshop manipuliert worden. Zuerst war das Licht weiß –, nach etwa einer halben Minute wechselte es zu blau – und schließlich wurde es rot. Wenn das rote Licht leuchtete, dann, das hatte ich schnell verstanden, erhielt ich etwa zehn Sekunden später einen elektrischen Schlag.
Irgendwann blieben die Stromschläge jedoch aus: blau, weiß, rot − nichts. Ich hätte mich freuen können, doch stattdessen wurde ich misstrauisch. Wahrscheinlich, dachte ich, wollen sie mich in Sicherheit wiegen (man beachte, dass ich begann, die alleine im angrenzenden Raum sitzende Versuchsleiterin durch ein abstraktes Pluralpronomen zu ersetzen − gerade so, als handelte es sich bei dem Test um eine Verschwörung, mit einer Vielzahl von Strippenziehern im Hintergrund). Wahrscheinlich warteten sie nur darauf, dass ich meine Deckung sinken ließ, dass ich mich entspannte, nur um mir dann aus dem Hinterhalt eine gigantische Stromladung zu verpassen. Menschen, die ihre Tage an solch grauenhaften Bildschirmarbeitsplätzen zubrachten, traute ich alles zu. Zumal mich der Verdacht beschlich, dass sich vor allem solche Menschen für Psychologie interessieren (und ergo später als experimentelle Psychologen enden), bei denen selbst ein paar Renovierungsarbeiten im Dachgeschoss anstehen; so wie Jugendliche, die ein kaputtes Mofa haben, beim Reparieren ihre Liebe zum Verbrennungsmotor entdecken und deshalb später Mechaniker werden.
Ich musste an das berüchtigte Milgram-Experiment aus den Sechzigerjahren denken, bei dem ganz gewöhnliche Bürger im Rahmen einer
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