Schuechtern
schweizerischen und österreichischen Kliniken wird zwar noch das konkurrierende Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation namens ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) verwendet − doch bei wissenschaftlichen Publikationen, die sich auf dem amerikanischen Markt behaupten sollen, kommt auch bei uns vermehrt das DSM zum Einsatz.
Während dieses Handbuch nun bis zu seiner zweiten Auflage den Tatbestand der Sozialangst noch gar nicht kannte, führte es in seiner dritten Auflage aus dem Jahr 1980 erstmalig Stichworte wie social phobia oder avoidant personality disorder auf: Es machte diese Verhaltensweisen also allererst als mögliche psychische Erkrankungen kenntlich; wer zuvor noch schlicht-umgangssprachlich als ‹schüchtern› gegolten hatte, konnte nun mit dem altsprachlichen und dadurch ungleich therapiewürdiger anmutenden Adjektiv ‹sozialphobisch› bezeichnet werden. Die Erschaffung der Sozialphobie als Krankheit war also gewissermaßen ein adamitischer, ein sprachschöpferischer Akt.
Gleichzeitig wurde die Liste der Verhaltensweisen und subjektiven Empfindungen, die als Anzeichen für eine soziale Phobie gelten konnten, maßgeblich erweitert − da Schüchternheit nur selten mit messbaren physiologischen Symptomen einhergeht, eignet sie sich besonders für solche konzeptuellen Umwidmungen und Ausbauten. Mit einem Mal genügte dem DSM zufolge die bloße Befürchtung , dass man sich in einer sozialen Situation wiederfinden könnte , in der man möglicherweise von anderen beobachtet wird und sich dabei in blamabler Weise verhält, als Anzeichen für eine Sozialphobie. «Wenn man die Schwelle für eine psychische Störung so niedrig ansetzt», schreibt Lane, «dann kann man fast jede Gefühlsregung als psychische Störung im DSM auflisten.» Tatsächlich stieg der geschätzte Bevölkerungsanteil der Personen, die unter dieser neu entdeckten Krankheit litten, in den USA binnen weniger Jahre von unter vier auf beinahe zwanzig Prozent, 1993 ernannte die Zeitschrift Psychology Today sie sogar zur «psychischen Störung des Jahrzehnts.» Unter klangvollen Namen wie Sozialphobie oder social anxiety disorder wurde Schüchternheit zu einer der am häufigsten gestellten psychiatrischen Diagnosen in der westlichen Welt.
Und wem diese Krankheit eingeschrieben wurde, dem wurde und wird sie hernach nicht selten mit medikamentöser Hilfe wieder ausgetrieben. Denn natürlich verdankte sich die Einsicht, dass eine bis dato weitgehend als normal geltende Verhaltensdisposition in Wahrheit therapiebedürftig sei, nicht zuletzt dem Einfluss der Pharmaindustrie, die binnen weniger Jahre beinahe hundert Millionen Dollar in Werbung für Medikamente gegen Angststörungen investierte und gelegentlich sogar Tagungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung sponserte: Eine wichtige Konferenz der APA Mitte der 1980er Jahre in Boston, auf der die diagnostischen Kriterien für Angststörungen definiert wurden, wurde beispielsweise von dem Pharmagiganten Upjohn bezahlt − der zufällig gerade ein Mittel gegen Angststörungen namens Xanax lanciert hatte. Von den hundertsechzig Experten, die derzeit an einer Neufassung des DSM arbeiten (darunter auch deutsche Forscher), haben mehr als die Hälfte finanzielle Verbindungen zur pharmazeutischen Industrie. Und unter den siebenunddreißig Ärzten, welche die Kliniken für Psychiatrie an deutschen Universitätskliniken leiten, gibt es dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech zufolge gerade einmal zwei, die auf ihrem beruflichen Werdegang keine finanziellen Zuwendungen von Pharmaunternehmen erhalten haben.
Im Fall der sozialen Angststörungen wurde also ein Absatzmarkt geschaffen, der zuvor noch nicht oder zumindest nicht in diesem Umfang existiert hatte − und dies erforderte eine grundlegende Umschulung der Kunden. «Patienten mit sozialen Angststörungen glauben oft fälschlicherweise, sie seien einfach nur sehr schüchtern», wie es eine innerbetriebliche Mitteilung des Pharmaunternehmens SmithKline Beecham aus dem Jahr 1998 formulierte: «Dies ist ein weit verbreiteter Irrtum.» Ähnlich besorgt äußerte sich eine große europäische Studie aus dem Jahr 2011, die von dem dänischen Arzneimittelhersteller Lundbeck mitfinanziert wurde: Ihr zufolge leiden fast vierzig Prozent aller EU-Bürger unter einer psychischen oder neurologischen Störung (wobei Angststörungen mit einem Anteil von vierzehn Prozent den Spitzenreiter
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