Schuechtern
verwickeln Sie denjenigen, der den Hörer abnimmt, in ein sinnloses Gespräch.»
Vorsichtshalber stelle ich mein Telefon so ein, dass meine Nummer für den Angerufenen nicht sichtbar ist. Vorsichtshalber achte ich darauf, dass die ersten Ziffern der Vorwahlnummer einen Ort nahelegen, der möglichst weit von Berlin entfernt liegt. Dann geht es los. Das Tuten am anderen Ende der Leitung ist erschreckend laut, wie das Klopfen an eine Grabkammer, das die Totenruhe eines bösen Geistes stören könnte, oder doch immerhin die wohlverdiente Mittagspause eines Steuerberaters, Handwerkers, Hausverwalters − wie immer. Ich wandere durch die Wohnung, so als könnte ich dadurch vor dem Telefonat davonlaufen, und fange an zu zählen. Eins…
Die Frauenstimme, die sich meldet, kommt ohne Umschweife zur Sache: «Die gewählte Nummer ist nicht vergeben. The number you have dialled is not assigned .» Puh, noch einmal Glück gehabt. Oder auch nicht: Das Warten ist ja das Schlimmste, und mein Nervenkostüm hat schon jetzt eine Laufmasche. Noch ein Versuch. Eins, zwei…
Wieder eine nicht vergebene Nummer. Mein Gott, gibt es denn in Süddeutschland keine Festnetzanschlüsse mehr? Meinem Gefühl nach müsste die willkürlich von mir ausgesuchte Ortsnetzkennzahl irgendwo im Schwarzwald liegen. Nochmal. Eins, zwei, drei…
Das Geräusch, das mir dieses Mal vom anderen Ende der Leitung entgegenschallt, klingt wie mein Tinnitus. Der kann es aber nicht sein, mein Tinnitus sitzt im rechten Ohr, deshalb halte ich den Telefonhörer immer an das linke. Ein Faxgerät. Mein Nervenkostüm hängt in Fetzen an mir herunter. Eins, zwei, drei, vier…
«Bitte sprechen Sie nach dem Piepton.» Ob das zählt, wenn ich mein sinnloses Gespräch mit einem Anrufbeantworter führe? Wohl kaum. Normalerweise bin ich überglücklich, wenn ich an Stelle eines Menschen aus Fleisch und Blut nur eine Tonbandstimme erreiche; aber nicht jetzt. Lange mache ich diese Übung nervlich nicht mehr mit. Ich bin praktisch nackt. Eins, zwei, drei, vier, fünf…
«Ja, hallo?» Keine Aufnahme. Eine Frauenstimme. Nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Auf jeden Fall echt. Vermutlich sollte ich jetzt irgendetwas sagen.
«Ja, guten Tag. Störe ich gerade?»
«Um was goht’s denn?» Deutlich schwäbischer Einschlag. Meine Vermutung, dass ich im Schwarzwald landen könnte, war offenbar nicht ganz falsch.
«Verzeihung, wenn… Es ist, äh, wahrscheinlich etwas merkwürdig. Das ist, ich rufe nur an, das ist sozusagen Teil einer Therapie. Ich soll, ich soll jemanden anrufen, willkürlich, den ich nicht…»
«Aber net hier!», schneidet die Schwäbin mir kaltherzig das Wort ab. «Auf Wiederhören.» Klick.
Ich bin schockiert. Schockiert über mein Herumgestotter. Schockiert über die von mir an den Tag gelegte, einem erwachsenen Menschen vollkommen unangemessene Befangenheit. Schockiert aber auch über die seelische Hornhäutigkeit der Schwäbin. Andererseits verstehe ich die Frau: Ich habe ja nicht nur gestottert, sondern vor Nervosität auch gejapst und gekeucht wie ein Telefontriebtäter.
Bevor ich das nächste Mal zum Hörer greife, sorge ich deshalb chemisch vor und nehme prophylaktisch eine Tablette Xanax. Dieses Medikament, generischer Name Alprazolam, ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Benzodiazepine: Seine Wirkung beruht darauf, dass er die Aufnahme des Neurotransmitters Gamma-Aminobuttersäure erleichtert, welcher wiederum die Erregbarkeit der Neuronenmembranen im zentralen Nervensystem herabsetzt. Er wird daher unter anderem zur symptomatischen Behandlung von Angststörungen eingesetzt. Bisher kannte ich Xanax eigentlich nur aus der Schönen Literatur: Patrick Bateman, der Titelheld aus Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho , schluckt dieses Präparat immer zur Beruhigung, bevor er eine Prostituierte ermordet oder einen Kollegen mit der Handsäge vivisektiert − und ein Medikament, das das Gewissen eines psychopathischen Serienmörders beruhigt, denke ich, sollte eigentlich auch einem Schüchternen helfen. Außerdem ist Xanax das einzige verschreibungspflichtige Präparat gegen Angststörungen, das ich rezeptfrei über einen Bekannten bekommen konnte.
9:25 Uhr. Die kleine, gelbe, ovale Tablette liegt vor mir auf dem Schreibtisch; die darin eingestanzte Aufschrift lautet S901 , in der Mitte befindet sich eine Einkerbung zur leichteren Teilbarkeit. Sieht eigentlich ganz harmlos aus, aber trotzdem bekomme ich es, nachdem ich die Liste mit
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