Schuechtern
Stichwort:
«Sprungbrett.»
«Ach, da geh ich nicht mehr drauf! Ich bin ja schon neunzig!»
«Hahaha! Schon neunzig! Na, dann ist natürlich klar, dass Sie… »
Ich fasele weiter wie ein hochgekokster Staubsaugervertreter, merke aber, wie sich trotz des Alprazolams allmählich mein Gewissen bemerkbar macht. Ich will der alten Dame ja nichts Böses, aber trotzdem erscheint mir mein Verhalten mit einem Mal unfassbar niederträchtig. Als dann auch noch eine misstrauisch gewordene Tochter, Schwiegertochter oder Enkelin am anderen Ende der Leitung das Gespräch übernimmt, hänge ich hastig auf. Was sollte ich ihr auch erzählen? Dass ich nicht etwa, wie sie vielleicht denken könnte, ein Trickbetrüger bin, sondern nur ein verklemmter Autor auf Tranquilizern, der sich am Telefon mal seinem inneren Schweinehund stellen will?
Ich mache mir Sorgen, dass die freundliche alte Dame nun von ihrer Tochter/Schwiegertochter/Enkelin Vorhaltungen gemacht bekommen könnte, weil sie sich so unbefangen mit einem wildfremden Menschen unterhalten hat; dass sie ab jetzt bei jedem Anrufer argwöhnisch wird und der Welt nur noch mit Misstrauen begegnet. Ich überlege ernsthaft, noch einmal bei ihr anzurufen und mich zu entschuldigen, aber meine alte Angst ist wieder da: Während ich meinen Gedanken nachhing, muss der Häuptling aus Tonga unauffällig zur Tür hereingekommen sein, leise murmelnd das Telefon umschritten haben und wieder verschwunden sein. Die Schüchternheit, das wusste schon Immanuel Kant, «läßt sich nicht so leicht wegkünsteln. Denn […] der erste Versuch zur Dreistigkeit, wenn er fehlschlägt, [macht] nur noch schüchterner.» Ich schäme mich entsetzlich.
Ich muss sagen: Je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher erscheint es mir, dass irgendein schüchterner Mensch je eine Übung wie diese ohne professionelle psychotherapeutische Begleitung in Angriff genommen, geschweige denn dadurch seine Schüchternheit auch nur ansatzweise überwunden hat. Trotzdem empfehlen fast alle Schüchternheitsratgeber, wie der englische Wissenschaftskritiker Christopher Lane schreibt, bis heute unverdrossen eine solche Herangehensweise: «Stelle dich deinen Ängsten; sag dir, dass du es schaffen kannst; nimm dir praktische Aufgaben vor, die allmählich schwieriger werden; sei aber trotzdem du selbst.»
Daneben hat in den vergangenen Jahrzehnten aber auch eine Pathologisierung und, damit einhergehend, eine zunehmende Medikalisierung der Schüchternheit stattgefunden. Folgt man der Argumentation, die Lane in seinem Buch Shyness: How Normal Behavior Became a Sickness entfaltet, so gelten Eigenschaften und Verhaltensweisen, die vor einer Generation noch als ‹normal› galten, inzwischen oft als psychopathologische Störungen, die der − vorzugsweise medikamentösen − Therapie bedürfen. Während man schüchterne Menschen früher einfach nur für «introvertiert und vielleicht ein bisschen seltsam» gehalten oder sogar für ihr zurückhaltendes Wesen bewundert habe, so müssten sie sich heute immer wieder der Diagnose erwehren, krank zu sein: «Wir haben die Definition dessen, was gesundes Verhalten darstellt, so dramatisch eingeengt», schreibt Lane, «dass ganz gewöhnliche Schrullen und Macken, die zum normalen Spektrum adoleszenter und erwachsener Gefühlsäußerungen gehören, als problematisch und bedrohlich gelten und medikamentös behandelt werden.»
Dieser psychologische Paradigmenwechsel − der, wie so viele Entwicklungen in der westlichen Welt, seinen Ausgang in den USA nahm − verdankt sich Lane zufolge nicht zuletzt dem Einfluss der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung APA, die seit Mitte der 1970er Jahre das Krankheitsbild der Sozialen Phobie diskursiv konstruierte. Die APA ist der einflussreichste Verbund von Psychiaterinnen und Psychiatern weltweit, und sie gibt in unregelmäßigen Abständen das psychiatrische Klassifikationshandbuch Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders oder kurz DSM heraus, das als klinisches Referenzwerk – seit 1996 auch in deutscher Übersetzung – weltweit in Gebrauch ist: Es stellt mithin, so Christopher Lane, «die Bibel der Psychiatrie» dar und verändert zunehmend «unsere Auffassung davon, welches psychische Verhalten als normal anzusehen ist». Viele psychiatrische Diagnosen in asiatischen und afrikanischen Ländern, in Mittel- und Südamerika und dem Nahen Osten orientieren sich inzwischen an der Klassifikation des DSM. In deutschen,
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