Schuechtern
möglichen Nebenwirkungen gelesen habe, mit der Angst zu tun: Benommenheit, Bewusstseinstrübungen, Muskelschwäche, Koordinationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen, Verwirrtheit, im schlimmsten Fall paradoxe − das heißt: der angestrebten Wirkung entgegengesetzte − Effekte wie Wutausbrüche, Albträume, Psychosen. Eine komplizierte Situation: Was tun, wenn man Angst vor einer Tablette gegen Angststörungen hat? Vermutlich nimmt man am besten eine Tablette gegen Angststörungen − oder zumindest eine halbe. Ich breche das Oval in zwei Teile, nehme eine Hälfte in den Mund und spüle sie mit einem großen Schluck Hagebutten-Acerola-Tee herunter.
9:57 Uhr. Jetzt müsste eigentlich allmählich etwas passieren. Zumindest ein Placebo-Effekt sollte zu spüren sein, der Literatur zufolge setzt dieser in der Regel schon nach zehn Minuten ein. Aber vermutlich nicht, wenn man ihn erwartet.
10:26 Uhr. Ich nehme die zweite Hälfte der Tablette, setze mich ans Fenster in die Sonne und lese Rousseau. Der Philosoph beteuert, durch die Schilderung seiner Schüchternheit ebendiese, zumindest innerhalb des Textes, überwunden zu haben: «Ich habe den ersten, den peinvollsten Schritt in dem dunklen und schlammigen Labyrinth meiner Bekenntnisse getan. […] Von nun an bin ich meiner sicher; nach dem, was ich zu erzählen gewagt habe, kann nichts mehr mich aufhalten.» Ich habe leichte Schwindelgefühle, fühle mich ansonsten aber ziemlich gut. Ob das an der schriftlichen Verarbeitung meiner peinlichen Erinnerungen liegt oder doch eher an den 0,5 Milligramm Alprazolam, die sich gerade über die Gamma-Aminobuttersäure-Rezeptoren in meinem Thalamus hermachen, vermag ich nicht sagen.
10:56 Uhr. Eine große Leichtigkeit durchflutet mich. Die Herbstsonne fällt direkt in meine Seele, ach was, sie scheint durch meinen Körper und wirft an die Wand einen pulsierenden, herzförmigen Schatten. Als ich lese, dass der schüchterne Rousseau als Knabe einer Nachbarin in den Kochtopf «gepißt» habe und dass die Erinnerung an diesen schäbigen Streich ihn auch noch fünfzig Jahre später zum Lachen bringt, erfasst mich unaussprechliche Freude. Ja, denke ich, einfach mal der Welt in den Kochtopf pinkeln! Oder sie zumindest mit albernen Telefonaten belästigen. Ich glaube, ich bin bereit.
11:02 Uhr. Ich mache mir einen Kaffee, setze mich an den Küchentisch und greife ohne zu zögern zum Telefon. Mein Atem ist flach, meine Hand ganz ruhig. Außerdem weiß ich nun, was ich bei meinem letzten Telefonat falsch gemacht habe: Ich hätte mich an Stelle der Schwäbin auch nicht mit einem Menschen unterhalten, der nicht einmal seinen Namen preisgibt. Ich habe keine Angst, mich zu verraten, ich brauche nicht einmal ein Pseudonym. Eins, zwei…
«Hallo?»
«Guten Tag, mein Name ist Dr. Werner. Ich würde Sie gern für die Teilnahme an einer kurzen psychologischen Studie gewinnen. Haben Sie zwei Minuten Zeit?»
Natürlich regnet es auch diesmal wieder Absagen: Die erste Frau, die ich erreiche, kocht gerade Mittagessen, die zweite ist ihren Worten zufolge gerade «besetzt» − aber ich lasse mich nicht beirren, die Ausreden tropfen links und rechts an mir ab. Ich hake nach, vereinbare Termine für den nächsten Tag, probiere es immer wieder. Eins, zwei…
«Ha ja. Zwei Minuten habe ich schon.»
«Na, das ist ja wunderbar! Passen Sie auf, es ist ganz einfach: Ich nenne Ihnen einen Begriff, und Sie sagen mir so schnell wie möglich, welche Assoziation Sie dazu haben. In Ordnung? Prima, es geht los. Licht.»
«Das müssen wir haben!»
«Schatten.»
«Den müssen wir auch haben! Damit wir Geld haben.»
Aha. Hm. Meint sie das jetzt im übertragenen Sinn, also: dass man nicht mehr ganz dicht sein muss, wenn man heutzutage noch Erwerbsarbeit leistet? Oder hat sie mich durchschaut und versucht, mir das durch die Blume zu verstehen zu geben: Ich weiß, Sie haben einen Schatten, aber Sie sind jung und brauchen das Geld? Egal, weiter.
«Schildkröte.»
«Die sonnt sich am liebsten.»
«Das ist richtig. Auge.»
«Damit kann man sehen und lesen.»
«Alprazolam.»
«Wie bitte?»
«Alprazolam.»
«Kenn ich nicht.»
«Kein Problem, dann nehmen wir gleich den nächsten Begriff: Schüchternheit.»
«Ist heute nicht mehr so gut.»
«Aha. Und warum nicht?»
«Schüchtern darf man heute nicht mehr sein. Sonst kommt man nicht durch.»
Oha! Die bisher ausführlichste und am besten begründete Antwort. Okay, das letzte
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