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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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ich noch mal, »aber ich möchte nach Hause.«
    Bevor meine Tasse leer ist, klingelt es an der Tür. Die neue Schülerin betritt das Margeritenzimmer. Sie ist ungefähr so alt wie ich. Germanistikstudentin, tippe ich. Sie trägt eine modische Brille. Die alte Französin stellt uns einander vor. Ich erkenne am verstohlenen Lächeln des Mädchens, dass sie meine Musik kennt. Das schmeichelt mir, wie immer. Das Mädchen sieht aus, als könne sie die Odaliske von Hebbel auswendig zitieren, würde dies aber keinesfalls vor Publikum tun. Der Gedanke gefällt mir. Aus heiterem Himmel beschließe ich, dass sie meine Freundin sein wird. Ich hatte seit der Grundschule keine Freundin mehr, jedenfalls keine, für die es sich gelohnt hätte, ein Lied zu schreiben. Dieser Studentin werde ich ein Lied schreiben, ob es sich lohnt oder nicht.
    Wir tauschen ein paar Floskeln aus, meine Französischlehrerin schenkt Tee nach. Ich lade die Studentin ein, irgendwann in den Fairy Club zu kommen. Zum Abschied gebe ich ihr höflich die Hand. Ich will sie berühren, will wissen, ob ihre Hand kalt oder warm ist.
    Meine Französischlehrerin begleitet mich zur Tür.
    »Wann kommst du wieder?«, fragt sie.
    »Ich werde anrufen«, sage ich.
    Draußen hat sich ein dunkler Wolkenberg versammelt. Die alte Dame sieht ihn eine Weile an. Sie beginnt wieder, ihre grauen Haarsträhnen zu sortieren, gedankenlos, als führten ihre Finger ein Eigenleben.
    »Das Wetter ist eine Sprache«, sagt sie.

Kuckucksei
    Wenn die Sonne Magnolienknospen aufplatzen lässt. Wenn das Licht ein Flirren zwischen den Wimpern ist. Nachts, wenn Sirius glüht und ich mir vorstellen kann, ins All hineinzufliegen, immer geradeaus. Oder im Herbst, wenn Äpfel im bleigrauen Himmel hängen und zittern wie goldene Glöckchen. Wenn Wind, die absolute Zugluft, überall ist und die Wolken Walzer tanzen. Es gibt Tage, an denen klar wird, dass das Wetter eine Sprache ist.
    Im letzten Winter gab es auch so einen Tag. Ich war mit dir verabredet. Die Straßenlaternen trugen Firnbärte. Eisblumen und Schneewehen krochen an Bushaltestellen hoch. Es schneite, als habe der Himmel beschlossen, die Welt in ein weißes Tableau zu verwandeln.
    Ich hielt dem Schnee meine Zunge entgegen, meine einzige Waffe gegen das Weiß. Auf jeder Flocke saß ein kleiner Gott und lachte mich aus. Die Flocken machten mein Haar weiß, meine Schultern, meine Schuhe. Den Kopf im Nacken, blinzelte ich in den Himmel, ein Kind, ein betrunkener Tänzer. Dass die Flocken den Zweikampf gewinnen würden, war völlig klar.
    »Hübsche Zunge«, sagtest du.
    Und du botest mir den Arm, förmlich und spielerisch zugleich, eine neue Geste. Wir hatten uns zwei Wochen lang nicht gesehen. Hatten Arbeit und Schlaf nachgeholt. Du warst ein entfernter Blick unter dunklen Brauen geworden, mich musternd, scharfe Inuitaugen, ein Jäger im Schnee. Ich nahm deinen Arm. Du fühltest dich fremd an und trugst einen Mantel, den ich nicht kannte. Durch den Großstadtschnee, der metallischer schmeckte als der Schnee meiner Kindheit, versuchte ich zu riechen, ob du noch derselbe warst.
    Wir überquerten den Fluss. Sein Wasser war grün vor Kälte, ein tiefes, klares, aber undurchsichtiges Grün. Als wir mitten auf der Fußgängerbrücke standen, waren ihr Anfang und ihr Ende im Flockengewirr verschwunden. Wir standen auf einem Steg vom Nichts ins Nichts. Ich warf einen Schneeball in den Smaragdfluss unter uns.
    »Schnee ist ein Bild für den Tod«, sagtest du, als wir weitergingen.
    Zwei oder drei Stunden lang schwebten wir durch die Stadt, ein impressionistischer Ölwirbel, zwei konturlose Flaneure. Obwohl ich nur leichte Stiefeletten trug, fror ich nicht. Während wir weiter und weiter durch die Flocken tanzten, war mir, als müssten es Apfelblüten, Kirschblüten, Mandelblüten sein, die sich überall einnisteten, hellrosa und weich, und kein Schnee. Ich hielt meinen Kopf nah bei deiner Schulter. Mein Frühling hatte im Winter begonnen, und ich war weit davon entfernt, an den Tod zu denken, allenfalls an Kinderspiele, den erdachten Heldentod, bei dem das Holzschwert matt zu Boden sinkt, während das Herz aufgeregt weiterschlägt.
    Diese und andere Erinnerungen spulen durch meinen Kopf wie alte Filmrollen. Es flackert und rattert. Der Kerl am Projektor legt die Rollen in unbestimmter Reihenfolge ein, schnipselt, wiederholt. Ich sehe Kindheitserinnerungen und Mitschnitte der letzten Tage. Dem Typen reißt ein Bildstreifen. Er legt einfach eine

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