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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Französischlehrerin stolz. Ich betrachte ihn eingehend, zum vierten Mal in diesem Jahr. Diejenigen der dicken Weidenstäbe, die in der Erde stecken, beginnen Blätter zu treiben.
    Wir nähern wir uns dem giebeligen Gebäude der Anstalt. Ich suche den abgebröckelten Ziegel im Gemäuer, der aussieht wie ein Gesicht, suche den Messingsalamander am Seerosenteich und die moosige Stelle, wo der Stationshund begraben liegt. Meine Französischlehrerin indessen deutet unbestimmt ins Grüne. Sie habe mehr als einen Baum in diese Gärten gepflanzt. Sie habe auch alte Freunde hier.
    Ich frage nicht, warum wir diesen Freunden auf unseren Spaziergängen nie begegnen. Wenn die grauhaarige Dame einen Schritt aussetzt und versonnen lächelt, nehme ich an, dass sie stumm jene Bekanntschaften grüßt, die ich nicht sehen kann. Stattdessen sehe ich Pfleger, die ihren Pausenkaffee trinken, Besucher mit Erdbeertorten und herumwandelnde Patienten. Einer davon hängt seinen Blick an mich. Es ist ein düsteres Starren. Er bewegt seine Lippen, ich kann seine Flüche auf meinen Kopf prasseln fühlen. Regenkind, schreit er mich an, Sturmhure. Völlig lautlos schreit er das, und ich bin verblüfft, wie gut ich ihn verstehe.
    Zwei Stunden dauert die französische Unterhaltung, und zwischendurch, das ist ihre Art, fragt meine Lehrerin mich schamlos und scheinbar zusammenhanglos aus. Sie kann erzählen wie ein Märchenbuch und fragen wie ein Kind. Meine Musik findet sie seltsam, sagt sie. Ob ich denn wenigstens ordentlichen Gesangsunterricht erhalten hätte. Ich verneine. Braucht ihr wohl nicht, sagt sie stockend, in eurem Trip Hop oder wie ihr das nennt. Ich erwidere, dass es nicht schaden würde. Sie nickt gefällig.
    Als wir wieder vor ihrer Haustür stehen, bin ich sehr müde. Ich sage es meiner Lehrerin. Plötzlich spricht sie mich auf Deutsch an, fast akzentlos.
    »Hinten gibt es ein Gästezimmer. Leg dich hin und schlaf eine Weile.«
    Aus Neugier, Müdigkeit und einem ohnmächtigen Gefühl des Vertrauens nehme ich die Einladung an. Im Gästezimmer steht eine Chaiselongue und ein blütenweißes Bett. Ich traue mich nicht, das Bett zu benutzen und lege mich auf die Chaiselongue.
    Als ich die Augen wieder öffne, bin ich binnen einer halben Sekunde hellwach. Ich erwarte, dass etwas Unerwartetes geschieht, dass die Tür aufspringt, dass ein Schrei ertönt, dass sich im Schatten des Bettes etwas bewegt. Aber nichts rührt sich. Stattdessen rieche ich Tee und Margeriten.
    Neben dem Bett steht ein Bild, schwarz-weiß, von einem jungen Mann. Ich nähere mich der Fotografie und nehme sie in die Hand. Der junge Mann verwandelt sich in eine junge Frau. Sie trägt einen schwarzen Hut, wirft ein Bein über ihr Fahrrad und dem Fotografen einen Blick über die Schulter zu. Ich stelle das Bild zurück und tapse aus dem Zimmer, so wie ich zu Borg tapsen würde, wenn er kocht.
    »Gut geschlafen?«, fragt meine Französischlehrerin.
    »Ja, danke. Sie sprechen sehr gut Deutsch. Wusste ich gar nicht.«
    »Ich hatte zwölf Jahre lang einen deutschen Mann«, sagt sie. »Setz dich. Magst du Tee?«
    Ich setze mich. Es gibt Leberwurstbrot und Pfefferminztee, danach Honigkuchen. Die Füllung meiner Teetasse, so scheint mir, verschwindet im Minutentakt. Ich bin dauernd auf dem Weg zur Toilette. Ich frage meine Lehrerin nach der jungen Frau im Gästezimmer. Eine Freundin sei das, sagt sie, von früher, Garderobendame bei der Oper.
    »Sie gefällt mir«, sage ich.
    Meine Lehrerin schmunzelt. Winzige silberne Haare lassen ihre Wangen wie gebleichten Samt aussehen. Ihre Augen spiegeln das Fenster und den Himmel. Ich bilde mir ein, einzelne Wolken darin sehen zu können. Als sie bemerkt, dass ich in ihre Augen starre, lächelt sie noch breiter und fragt mich, ob ich morgen einen Auftritt hätte. Ich sage nein, erst am Wochenende, in Luxemburg und im Elsass. Für die Auftritte werde ich ein tizianrotes Kleid brauchen. Ich werde Nylonstrümpfe mit Millefleursmuster tragen. Meine Französischlehrerin nickt, sie versteht meine Kleiderlogik. Vielleicht war sie wirklich Sängerin. Sie sagt, dass eine neue Schülerin sich heute Abend vorstellen wolle, und lädt mich ein, zum Abendessen zu bleiben. Ich lehne höflich ab.
    »Es gibt Ente auf Spinat«, sagt sie, »und zum Nachtisch Götterspeise.«
    Beim letzten Wort zucke ich unwillkürlich zusammen. Ich suche nach einem Wink in ihrer Miene, nach einem Blinzeln, das sie verrät. Ihr Blick bleibt undurchdringlich.
    »Danke«, sage

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