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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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kommt auf andere Restaurants zu sprechen. Er kennt ihre Interieurs, ihre Kundschaft, ihren Ruf. Er kennt überhaupt alles Kennenswerte dieser Stadt. Während er spricht, gehe ich auf Wanderschaft in seinem Gesicht. Seichtes Meerwasser wirft auf sandigen Grund, wenn Sonnenlicht es völlig durchdringt, dasselbe Muster, das er in den Augen trägt.
    Als ich wieder in die Mosaiken sehe, verschwinden die Schwanzfedern der Elster gerade zwischen den Blüten. Ich starre ihr hinterher. Sie hat aufgegeben. Sie wird petzen gehen.
    »Was schaust du an?«, fragt mich mein Gastgeber.
    »Ich starre ins Leere«, antworte ich und kehre in seine Augen zurück.
    Ich merke, wie hungrig ich bin, hungrig nach Neuem, nach den unbekannten Zügen meines Gegenübers, nach beliebigen Geschichten aus seinem Mund, nach einem sardischen Menü mit mindestens drei Gängen und dem Charleston meiner Sinne in alldem. In diesem Zustand könnte ich meinem Begleiter endlos lange zuhören. Wie er von Sherry und Venusmuscheln spricht, von Wertpapieren und Haifischbecken, von Espresso im Opernhaus.
    Das Essen schmeckt nach Sonne und Salzwasser. Mein Gastgeber isst kaum etwas. Er sieht mir beim Kauen zu. Er hält dünnes Hirtenbrot in der Hand und stellt eine Frage. Seine wasserblauen Augen forschen mich an.
    »Niemand ist mehr als seine Möglichkeiten«, sage ich vage ins Geschirrgewirr hinein.
    »Ich glaube, du kannst alles sein«, sagt er und betont das Du mit einem Lachen. Ob das ein Kompliment ist, weiß ich nicht. Dieser Mann konnte mich bereits zwei Stunden lang auf der Bühne beobachten, denke ich. Der Meeraugenblick kommt mir gefährlich nahe.
    Indessen tut auch der Wein seine Wirkung. Er sichelt durch meine Gedanken und schnippt die Ernte hälmchenweise ins Feuer. Ich schwebe über meinem eigenen Kopf und blinzle in die wachsenden Flammen. Die Mosaiken beginnen zu knirschen, zu bröckeln. Mein Gastgeber winkt den Kellner heran und bezahlt. Die Wildschweine wühlen, die Vögel flattern. Der ganze Raum ist in Aufruhr, als wir gehen, ich rotiere als roter Heiligenschein um mich selbst.
    Mein Gastgeber wohnt in einem neobarocken Altbau, Eichenparkett und Marmorbad, am Ostbalkon hängen Azaleen. Er allein bewohnt das ganze Stockwerk. Seine Ledersofas riechen gut. Ich berühre sie mit möglichst großen Teilen meiner Haut, damit ihre Kühle mich ein Stück weit auf den Boden zurückbringt.
    Wir unterhalten uns gut. Das Gespräch tanzt als Silbernadel zwischen ihm und mir, Stich links, Stich rechts, der rote Faden, und immer wieder sachte enger ziehen. Die Sache sitzt.
    Als plötzlich ein Vogel zu singen beginnt, sind vier Stunden vergangen, ohne dass wir es bemerkt haben. Für ein paar Minuten verlieren wir den Faden. Der Vogel zwitschert nicht, er stellt Fragen, denke ich. Vielleicht, sagt mein Gastgeber irgendwann, vielleicht sei es unsinnig, diese Wohnung zu halten. Er verbringe kaum Zeit hier. Er löst die Manschettenknöpfe und legt sie auf den Tisch. Trotzdem, murmelt er und öffnet die Balkontür, trotzdem. Der Azaleenduft quillt als purpurne Wolke herein.
    »Gefällt es dir?«, fragt mein Gastgeber.
    Er beugt sich über den Tisch, in den Purpur hinein, bis sein Hemdkragen vor mir schwebt. Er entzündet ein Teelicht. Nach einigen Sekunden erlischt es wieder.
    »Es gefällt mir«, sage ich.
    Er streicht ein neues Zündholz an. Der Vogel fragt.
    Wenn ich genau hinsehe, fallen mir die Kratzer im Parkett auf, die lockeren Türgriffe, die abgestoßenen Kanten. Viele haben hier gewohnt. Aber letztlich blieb die Wohnung leer. Als warte sie. Ich frage mich, worauf.
    Die Augen meines Gastgebers werden dunkel, die sardische Sonne geht mitsamt den Mosaiken im Meer unter. Anstatt sich ein Glas Wasser einzuschenken, trinkt er direkt aus der Karaffe. In seinen Augen liegt jetzt eine Müdigkeit, die kein irdischer Schlaf zu kurieren scheint. Ich frage mich, ob die leere Wohnung ihn melancholisch macht oder seine Melancholie die Wohnung so leer erscheinen lässt. Er wiegt den Kopf zu einer unhörbaren Melodie. Er wartet, denke ich, wie seine Wohnung. Er wartet so sehr, dass ich meine Zunge in seinen Mund schiebe, mitten in sein Warten hinein. Zum zweiten Mal hat er keine Zeit zu erschrecken. Seine Lippen öffnen sich. Ich wandere durch seine Mundlandschaft, seine Hände liegen irgendwo auf dem Leder, Meilen von unseren Zungen entfernt. Ob seine Finger sich verkrampfen oder lockern, sehe ich nicht. Ich lehne mich stärker gegen seine Brust. Mein Gastgeber atmet

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