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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Tür, auch wenn ich bei jeder Treppenstufe fürchte, dass mein Magen überschwappt. Ich hatte gehofft, dass bei dir alles anders sein könnte. Die Talfahrt hat lange auf sich warten lassen.

Mosaik
    Zwölf gut platzierte Membranen treiben das Schwirren der Stahlsaiten in den Saal. Mein Mund öffnet sich, eine Flügelspannweite weit. Mein Zwerchfell segelt an den Worten entlang. Ich stoße kontrollierte Halbsätze, halbkontrollierte Atemstöße, aufperlende Tontiraden und ein schmeichelndes Murren aus. Ein Wort nach dem anderen zerbirst. Alles fliegt.
    Der Saal schwelgt sich satt. Auch als die Stille wieder auf meiner Schulter sitzt, zehrt er gierig weiter. Die Menschen lagern als hungrige Wolke vor mir, ich kann, blind vor Scheinwerfern, sie fühlen. Die Spannung im Raum zerbricht am ersten Klatschen. Der Regen des Beifalls wäscht mich in den Boden. Noch eine Zugabe wollen sie. Mein Kopf schwirrt und hallt. Das Saaldach ist meine Schädeldecke, denke ich, senke die Stirn, und der Raum kippt mit, eine lärmgefüllte Kapsel, deren Inhalt bei jeder Bewegung durcheinanderfällt. Ich gebe eine zweite Zugabe, aber keine dritte.
    Neun Minuten später verabschiede ich mein Publikum. Ich verlasse die Bühne, stecke mein Haar hoch und packe meine Sachen. Ich sehe auf meine Finger herab. Die Linien auf meinen Fingerkuppen sind vom Spielen abgewetzt, wegpoliert, und meine Hände riechen nach Metall. Ich könnte irgendwer sein, denke ich, selbst meine Fingerabdrücke verflüchtigen sich. Beim Gehen lasse ich mir einen Zigarillo geben. Dann stehe ich draußen, der Bassmann lobt einen neuen Techniker. Ich sprenge die Verkapselung meines Kopfs mit dem süßen Rauch. Ich rauche so selten, dass die Wirkung mich trifft wie plötzlicher Aufwind. Ich schnüffle am Stahlgeruch meiner Finger und gehe ein paar Schritte wie auf Leewellen. Mir fällt ein Anzug auf, im Hintergrund lehnend, nicht rauchend, nicht trinkend. Männer kommen für gewöhnlich nicht im Anzug zu meinen Konzerten. Vielleicht sehe ich deshalb zwei Sekunden zu lange hin.
    »Darf ich Sie zu einem Getränk einladen?«, fragt mich der Anzug.
    In seiner steifen Frage schwingt eine Spur Amüsement mit, der Mann weiß um seinen unpassenden Auftritt, er kokettiert mit ihm. Ich mustere sein glattes Gesicht. Er trägt sogar Manschettenknöpfe. Ich sage ja.
    Ich atme ein paar Perlmuttwölkchen in die Nachtluft aus. Ich sage, dass ich Hunger habe. Er neigt seinen Kopf gegen die Wölkchen, atmet sie ein. Er sagt: Sie sind ein zauberhaftes Unikum. Er sagt: Kein Problem. Er sagt: An jeder anderen Frau hätte ich grünen Nagellack albern gefunden. Seine Komplimente wirken schnell und stark, die Leewellen werden mächtiger. Ich werfe den Zigarillo weg, habe Besseres gefunden.
    Das sardische Restaurant ist ein einziges Mosaik. Seine Decken, Säulen und Böden sind ein Meer aus Steinchen. Die Mosaiken zeigen Ranken und Blütenmuster, Wildschweine und Vögel. Selbst die Tischplatten sind Mosaiken, und ich beginne zu lachen, vor Freude über die Konsequenz. Der Kellner sieht prüfend auf die Uhr, als wir eintreten, nickt uns aber freundlich an einen freien Tisch. Mein Begleiter kennt die Weinkarte auswendig und kommentiert meinen Finger, der über die Roséweine rutscht.
    Stachelbeernote, leicht limonig, sagt er. Die blühenden Mosaiken beginnen sich sachte zu bewegen. Füllig, floral, expressiv, sagt er. Eine Elster lugt aus den Ranken und hüpft auf den Nachbartisch. Der schwarz-weiße Vogel äugt mich störrisch an, seine Augen sind polierte Steine. Korianderton, feine Schärfe, gewagter Abgang, sagt mein Begleiter. Ich halte die Tischkante fest.
    »Hoffentlich langweile ich Sie nicht«, sagt mein Begleiter.
    »Nein, gar nicht«, sage ich.
    Er habe den Beginn des Konzerts nicht verpassen wollen, komme direkt von der Arbeit, habe nur die Krawatte auf den Rücksitz geworfen und das Mobiltelefon versenkt.
    »Und die Uhr abgenommen«, bemerke ich, während ich meine Fingerspitze auf sein Handgelenk lege.
    Sein Arm ist kräftig und beinahe zigarillobraun. Die Form der Uhr zeichnet sich hell und glatt darauf ab. Sogar die Behaarung ist abgeschabt, wo sie saß. Ein zuckendes Lächeln, mein Begleiter wäre über die Berührung erschrocken, hätte sie ihm nicht im selben Moment gefallen. Ich nehme meinen Finger wieder weg. Was ich wissen wollte, weiß ich.
    Die Elster beginnt zu krächzen. Ich höre nicht hin. Stattdessen biete ich meinem Gastgeber das Du an. Er lächelt und wählt den Wein. Er

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