Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
Vom Netzwerk:
durchquert habe, gerate ich ins Straucheln, fange mich an einem Straßenschild, beschleunige wieder. Das Klappern meiner Schuhe ist absurd laut für einen frühen Morgen. Ich streife sie ab, samt den Socken, und stopfe sie in meine Tasche. Obwohl Kieselsteine in meine Sohlen stechen und der Boden nass und glitschig wie Fischlaich ist, laufe ich weiter. Meine Haut wird mit jedem Schritt durchlässiger, Chiffonhaut, durch die Kälte und Gegenwind einfach hindurchstreichen. Zahlen flippen durch meinen Kopf. Wie die Klappzahlen altmodischer Digitaluhren klackern sie durch. Zehn, neunzig, dreihundert, vierhundert, zur Straßenbahnstation sind es noch vierhundert, vierhundertelf Schritte. Ich habe sie gezählt. Tatsächlich.
    Meine Lippen sind blau, als du mir die Tür öffnest. Jedenfalls sagst du das. Ich suche nach den wenigen Stellen meines Körpers, die noch warm sind. Du dirigierst mich auf den roten Flokati. Du nimmst meine Füße, massierst den Schmutz des Fischlaichbodens in deine Hände. Ich lehne mich gegen dein Bett, vorsichtig, und erzähle.
    Ich erzähle rückwärts. Erzähle Kopfsteinpflaster, Helikopter und Sprengkante, erzähle Blaulicht und Morgennebel. Erst als meine Füße trockengeknetet sind, gehst du hinüber zum Rechner. Nach dem Hochfahren klickst du ein paarmal zügig. Deine Nase schwebt im weißen Monitorlicht, während du liest.
    »Hier ist es. Ein paar Autos müssen ungebremst in den Explosionskrater gefahren sein. Bisher kein Bekennerschreiben.«
    Du schaltest den Monitor aus und kommst zurück ans Bett. Du trägst nur eine weite Baumwollhose, deine Hand fährt ziellos über deinen Bauch. Dein Haar zeugt davon, dass du noch geschlafen hast, als ich klingelte.
    »Klar«, sagst du, »niemand rechnet damit, dass die Fahrbahn abbricht. Stell dir vor, du rauschst mit hundertvierzig Sachen über die Schnellstraße. Nachts. Einem Menschen könntest du vielleicht ausweichen. Aber wenn die Straße plötzlich aufhört, bevor das einer begreift, ist der nicht mal auf der Bremse.«
    Ich lege meinen Kopf auf deine Brust, vorsichtig, testweise. Erst vier Tage sind vergangen, seit mir in deiner Nähe übel wurde. Mein Ohr fügt sich willig in die Kuhle zwischen Schlüsselbein und Schulter. Meine Fühler richten sich wie Magnetnadeln zu dir, legen sich zitternd deiner Haut an, als wäre nie etwas gewesen. Während du sprichst, vibriert deine Stimme in meinem Kopf, ich höre dich von innen und von außen zugleich.
    »Die ganze Schnellstraße funktioniert doch nur«, sagst du, »weil alle glauben, dass sie nicht einfach aufhört.«
    Über das Wesen der Schnellstraße, notiere ich geistig. Dann raffe ich meinen Mut zusammen und deute an, dass ich noch mehr zu erzählen habe. Du horchst auf. Ich muss an zuckende Pferdeohren denken, ein Fluchttier. Diesmal erzähle ich die Geschichte vorwärts, Zigarillo, Manschettenknöpfe, sardische Küche, spreche den vergangenen Abend in deine Brustmuskulatur hinein, bis die Szenen auf dem Ledersofa von vorn und von hinten eingefasst sind. Sie erscheinen mir bereits unwirklich und unwichtig. Aber eine heimliche Stimme sagt mir, dass sie es nicht sein werden. Es ist dieselbe Stimme, die mir in der Tür der leeren Altbauwohnung Gemeinsamkeiten mit einem wöchentlichen Fortsetzungsroman attestierte. Also erzähle ich, bringe die Sofaszenen in Topflappen gewickelt auf den Tisch, eine dampfende Nachspeise, garniert mit den Küssen eines fremden Mannes. Deine Wirbelsäule wird ein bisschen steifer. Du lässt mich trotzdem Löffel um Löffel des heißen Breis auf deinen Teller schöpfen, weichst der Klebrigkeit meiner Geschichte nicht aus. Schließlich schweige ich, lasse meine Worte etwas abkühlen.
    »Du wirst da wieder hingehen«, sagst du.
    Es war keine Frage. Du weißt es. Als dein Kopf herabsinkt, fühle ich, wie dein Kinn mein Haar berührt.
    »Aber es ist gut. Erzähl mir alles. Erzähl mir immer alles«, sagst du dann.
    Ich nicke, so dass du es spüren kannst. Du lässt ein tiefes Schnauben hören. Instinktiv will ich mit meiner Hand über deine Brust fahren, sie kräftig reiben, du hast nicht nur die Ohren eines Pferdes. Du stehst unvermittelt auf, stößt mich beinahe um, gehst hinüber an den Schreibtisch und schaltest mit einem Fingertippen den Monitor wieder an. Dein Ungestüm, die Heftigkeit deiner Bewegungen sagt, dass ich dir nicht nachlaufen soll. Ich krieche auf dein Bett.
    Nachdem ich dort einige Stunden vor mich hingewelkt bin, erwache ich vom Beben der Matratze

Weitere Kostenlose Bücher