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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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schwerer. Ein atmender Fels, denke ich, und ich das Meer in seinen Höhlen. Irgendwann höre ich, wie seine Finger sich vom Sofa lösen, wie sich feuchte Haut vom Leder schält. Ich fliehe. Das Parkett knarrt unter meinen Schritten. Ich hole meinen Mantel.
    »Sehe ich dich wieder?«, fragt der Mann am anderen Ende der Wohnung.
    Obwohl ich die Antwort kenne, sage ich nichts. Ich fühle mich wie ein schlecht getarnter Birkenspanner, ein hastiges Versprechen, ein hübsch gekleideter Fortsetzungsroman. Ich schließe die Mantelknöpfe. Der Mann nickt nur. Seine Brust hebt und senkt sich. Geh erst mal.

Graffiti
    Ein Schwarm alter Graffiti, blassbunt, der sich kaum an die Sprühdosen erinnert, aus denen er quoll, treibt müde in die Nacht. Seit zwei Jahrzehnten hat er die Pfeiler unter einer Vierspurigen im Nordwesten umschwommen. Wie jeden Abend taucht er in die Dunkelheit ab.
    Die sechs Betonklötze waren früher beliebte Übungswände für neue Sprayer in der Stadt gewesen. Inzwischen wurden sie für besser sichtbare Objekte verlassen. Sie hätten sich nicht träumen lassen, noch einmal Zentrum des Interesses zu werden. Zunächst hatten die alten Graffiti sicher geglaubt, dass neue Sprayer im Anmarsch wären, Kinder vielleicht, Frischlinge, die ihr erstes Writing anbringen wollten. Das Wispern und Werken wurde lauter. Ein Transporter fuhr vor. Fünf Minuten später zwei weitere. Zehn Maskierte, keine Kinder, machten sich zugleich zu schaffen. Als die alten Farbfische erkannten, worum es wirklich ging, drückten sie ergeben die Augen zu. Ihre unförmigen Körper, zum ersten Mal so etwas wie Kälte empfindend, begannen kaum sichtbar zu zittern.
    Während sie zitterten, hatte ich sardisch gegessen und lag auf Ledersofas. Der neue Tag begann mit einem Schlag, mit einem Beben, in die Luft gejagt, mit dem Staub zersprungenen Betons, eine in den Nachthimmel explodierende Wolke, die aufs umliegende Gras herabregnete, eine graue Schicht hinterlassend. Die Trasse der vierspurigen Schnellstraße ist haltlos abgestürzt, und überall verteilt liegt die Asphaltkruste in kleine Platten zersprungen. Die Fahrbahn bricht einfach ab, liegt zerschollen fünf Meter tiefer, ein Krater, eine Falle, jetzt ist sie abgesperrt, Blaulicht kreist auf beiden Seiten. Das Rauschen von Funkgeräten dringt zu mir herüber, ein Hubschrauber schwebt über den schwarzen Kronen des Stadtwalds und lässt den silbernen Faden eines Seils zwischen die Wipfel fallen.
    Ich sehe mich selbst aus der Ferne kommen, durch den Nebel, meine Gestalt ist dunkel, der kalte Morgendunst wallt um meine Knöchel, meine Hüften. Ich bin auf dem Weg nach Hause, vergrabe die Hände in den Taschen und durchquere bei jedem Schritt meinen eigenen weißen Atem. Es dauert noch zwanzig Sekunden, achtundzwanzig Schritte, bis ich stehen bleibe. Acht weitere Sekunden, und keinen Schritt mehr, bis mir klar wird, was hier los ist.
    Ein zweiter Helikopter donnert heran. Suchscheinwerferlicht fällt durch die schmalen Nebelbänder am Himmel. Ein Wiesenstreif glitzert arglos mit seinem Tau. Dahinter liegt die aufgesprengte Vierspurige. Oben auf der Straße wird gefuchtelt, die Figuren der Polizisten tänzeln an der Sprengkante auf und ab. Von beiden Seiten hat man begonnen, den Schutt beiseitezuräumen. Einige Autowracks werden aufgeschnitten und Dinge, die ich nicht erkennen kann, geborgen.
    Mein Weg durch die Unterführung ein paar hundert Schritte weiter ist nicht mehr da. Die alten Graffiti aufgelöst in Staub. Ich gehe nicht hinüber. Stattdessen laufe ich schräg über die Wiese. Gehe dorthin, wo sich die Trasse langsam zum Boden hin senkt, kralle mich im nassen Gras fest und klettere die Böschung hinauf. Der Zaun ist an mehreren Stellen eingerissen, ich schlüpfe durch eine der Lücken. Ich überquere die Leitplanken, Seitenblicke zu den Gestalten am Krater werfend. Über den Zaun auf der anderen Seite muss ich klettern, kalter Draht schneidet in meine Hände. Als ich springe, fliegt einer der Helikopter näher, Rufe werden laut, sie haben etwas Neues gefunden. Ein Feuerwehrmann hat mich gesehen, eilt gestikulierend auf mich zu. Und obwohl ich mich am liebsten auf den Boden legen und tot stellen würde, stolpere ich die Böschung hinunter und laufe weg. Ich lasse meinen Atem hinter mir und eine schnurgerade Spur im Tau. Meine Schritte fallen wie von selbst. Der Feuerwehrmann ruft etwas. In meinem Rücken zucken die blauen Blitze. Ich laufe zu dir.
    Als ich den nördlichen Park

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