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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Kristallschemen, das Ginkgoblatt, die Landkarte und das Taschenmesser Teile eines Rätsels über ihn.
    Ich entscheide mich schließlich für das Ginkgoblatt, schiebe es unter mein Hemd und schleiche zur Badtür. Als sie aufgeht, springt der Lauf meiner Waffe an Moritz’ Kopf. Das hastige Herüberzucken seiner Pupillen, die klaren Linien seiner Augenbrauen, seine empört geschürzten Lippen, es fühlt sich alles so echt an. Als könnte ich ihn wirklich töten. Als steckte ich in beiden Körpern zugleich. Auf meinen Befehl wirft mein Bruder seine Waffe weg. Er flucht lauthals, schleudert wütend den Hut von sich, schmettert mir Verwünschungen entgegen. Wir sind zurück im Spiel.
    Ich stehe auf. Raffe meine Bettdecke und das Kopfkissen an mich. Gehe Stufe um Stufe hinunter. Aus Loras Zimmer dringt Gemurmel. Sonst ist es still. Auch bei Lutz ist kein Licht mehr. Ich klopfe. Er öffnet, im Hintergrund flimmern zwei Monitore. Die Regisseure in meinem Kopf dichten Lutz statt der Kopfhörer einen Cowboyhut an, dahinter die mondlose Prärie und ein paar Glühwürmchen. Ich sage, dass ich nicht schlafen könne. Ob ich mich hier hinlegen dürfe. Lutz zuckt mit den Schultern. Mit ein paar halbstarken Bewegungen räumt er eine Betthälfte von Gerümpel frei.
    Er lässt die Kopfhörer locker im Nacken hängen, während ich seinem Geklicke zuhöre und mir vorstelle, wie ein hagerer Held mit Feuersteinen spielt. Binnen Minuten werde ich schläfrig. Meine Gedanken sprühen Funken, die Hitze kribbelt an meinen Zehenspitzen, Lagerfeuerspuk.
    Wieder taumle ich zurück in die Vergangenheit, Sommerferientage zwischen der dritten und vierten Klasse, Heuwiesenduft. Mein Steckenpferd ist der Apfelschimmel mit der blonden Mähne. Moritz reitet seinen Rappen. Wir binden die Pferde an einen Baum und pirschen uns näher an die Scheune heran. Moritz streicht über verkohltes und spröde gewordenes Holz. Rund um das Scheunentor verläuft ein schwarzer Rand, oben hat das Feuer sogar einen Teil der Scheunenfront weggefressen. Mein Bruder zieht an dem Tor, bekommt rußige Finger, es schwingt einen halben Meter weit auf. Natürlich wissen wir, dass es streng verboten ist, sich hier herumzutreiben. Vor zwei Tagen hat die Scheuer gebrannt, und noch immer strahlen die schwarzen Balken etwas Wärme aus. Zumindest bilden wir uns das ein. Vielleicht ist es nur die Sonne, die das Innere der Scheune aufgewärmt hat.
    Geh nicht rein, beschwöre ich ihn. Wie glutig noch alles ist, raunt mein Bruder mit hingerissener Stimme in mein Ohr. Der scharfe Brandgeruch ist stärker, seit das Tor offen ist. Geh nicht rein, flüstere ich und folge ihm nach drinnen.
    Als ich hochschrecke, leuchten immer noch die zwei Monitore, Lutz klickt. Ich reibe meine Hände aneinander, kein Ruß, kein Blut. Ich will nicht an den Tag denken, als der erste Gott erschien, mit schmutzigen Flügeln an den seltsamsten Stellen seines Körpers und mit Krallen aus geschliffenem Glas. Will auch nicht daran denken, wie die anderen Götter nachfolgten, mit Übermenschgesichtern und Tierköpfen, mit Laubkronen und Widderhelmen. Ich will Lutz’ Namen sagen, Ablenkung, ein Hilferuf, und sage stattdessen den Namen meines Bruders.
    »Was?«
    »Kennst du einen Moritz?«, frage ich, um irgendwas zu sagen.
    »Wüsste nicht.«
    Und warum sollte er. Welch ein Unsinn. Nur weil er ihm ähnlich sieht. Aber es hätte ja sein können. Dass Lutz ein heimlicher Verwandter ist. Dass er irgendwas weiß.
    Es passiert mir immer wieder, dass ich Menschen treffe, die mir bekannt vorkommen. Die mir so vertraut erscheinen, dass ich sie frage, ob sie verwandt mit diesem oder jenem seien. Ob sie den und den kennen. Aber nein. Sie kennen sich nicht. Nie gibt es irgendeinen Zusammenhang. Sie treten einander in die Fußstapfen, tragen einander wie Schatten angeheftet und behaupten, nie voneinander gehört zu haben. Es ist verdächtig. Manchmal glaube ich, dass Hundertschaften von Menschen in Wirklichkeit ein und dieselben sind. Dass meine Welt eine große Bühne ist, deren Geschehen von wenigen Schauspielern bestritten wird. Für jede Rolle schminken sie raffiniert ihr Gesicht um. Sie warten hinter den Ecken, in Windeseile werden Kulissen aufgebaut und abgebaut.
    Aber so ist das natürlich nicht. Jeder spielt nur sich. Auch wenn er für tausend andere Rollen gut wäre. In Wirklichkeit ist die Bühne überbevölkert und zum Umschminken gar keine Zeit.
    Und doch, wie ähnlich sich alle sind. Wir schwimmen in einem Meer aus

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