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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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markiere die Festivaltage blau im Kalender. Blau ist für Business. Ich werde dem Bassmann Bescheid geben müssen. Dass der Anruf nicht gleich an ihn ging, verwundert mich sowieso. Der Mann fürs Geschäftliche ist für gewöhnlich er. Die zweite Stimme gehört meiner Französischlehrerin. Gedanklich schwenke ich von Blau nach Grün, Götterspeise, Smaragdgrün, malheureusement, elle est malade. Die nächste Nachricht ist von meinem Verlobten. Die Farbe verebbt, ein blasses Regengrau. Er will wissen, ob ich Lust auf Indisch habe, Sonntag, sagt er. Ich male mit Bleistift ein Fragezeichen in den Kalender, schreibe seinen Namen dazu.
    Unterdessen hat mir Moritz die Hände an den Bettpfosten gebunden. Er stellt viele Fragen. Über den Schatz. Über den Weg durchs Labyrinth. Ich werde schwächer und schwächer, im Spiel vergehen Stunden. Moritz bringt mir ein Glas Wasser. Gibt mir zu trinken. Jeden dritten Schluck verschüttet der Dreckskerl. Dann tupft er mich trocken. Ich will ihm ins Gesicht spucken, im Spiel, aus Versehen tue ich es wirklich.
    Ich habe tatsächlich Speichel im Mund gesammelt, die Lippen geschürzt. Die Bilder in meinem Kopf sind mächtiger als alles andere. Warum mich Moritz heute Nacht nicht loslässt, weiß ich nicht. Meine Rückblenden kommen und gehen wie kalte Regenschauer. Unter der breiten Krempe, im Prasseln des Regens, wippe ich ein wenig im Sattel. Schließlich werfe ich den blauen Marker an die Wand und lasse mich ins Bett fallen.
    Sag mal. Du hast ja den Arsch offen. Er wischt sich meine Spucke von der Backe. Ich entschuldige mich tausendmal. Er schubst mich tiefer in die Kissen und rennt aus dem Zimmer. Ich höre, wie die Badtür zufällt.
    Nachdem ich meine Hände freigewunden, meine Waffe wieder eingesteckt habe, stehe ich unschlüssig im Kinderzimmer. Über Moritz’ Schreibtisch hängt ein gepresstes Ginkgoblatt. Auf seinem Bett liegt eine auf Packpapier gemalte Landkarte. Der Kleiderschrank steht offen, ein Hut unseres Vaters schaut hervor, Moritz klaut dessen Sachen genauso gern wie ich. Einmal schnappte er sich die Anglermütze des Vaters, die mit den Ohrenklappen, und dessen alte Motorradbrille. Ich wickelte mir ein großes Halstuch um den Kopf, so dass ich aussah wie eine Cabrioletfahrerin in einem Fünfziger-Jahre-Film. Wir waren Piloten. Der dickste Ast einer Linde war unser Flugzeug. Um dort hinaufzukommen, mussten wir die Leiter aus Vaters Schuppen benutzen. Nur zu zweit schafften wir es, sie zu dem Baum zu schleppen und in Position zu bringen. Zur Sicherheit knoteten wir ein Seil um den Ast, so dass wir uns auch ohne Leiter hinablassen konnten.
    Wir waren in den folgenden Wochen oft dort oben. Die Oberseite des dicken Lindenasts wurde ganz blank poliert von unseren kleinen Füßen. Dort oben erfanden wir auch unser liebstes Kunststück, eine Mutprobe, einen Vertrauensbeweis. Ein Stück Seil, jeder fasst ein Ende. Dann stellen wir uns einander gegenüber, Rücken zum Abgrund, Bäuche zueinander, ganz dicht, meine Zehen berühren die Zehen meines Bruders. Wir lehnen uns zurück, Stück für Stück, das Seil zwischen uns spannt sich, bis unsere beiden Schwerpunkte weit jenseits des Astes hängen, einer links, einer rechts. Unsere Körper bilden ein ausbalanciertes V. Wir beißen uns konzentriert auf die Lippen, lassen einander nicht aus den Augen. Jeder Muskel ist gespannt.
    Ein Rütteln am Seil, ein Loslassen, ein Ausrutschen, und wir stürzen beide in die Tiefe. Wir wissen es. Tauschen faszinierte Blicke aus, fühlen uns wie Zirkuskinder.
    Wenn wir uns dann wieder in die Senkrechte zogen, wichen unsere vor Anstrengung verzerrten Züge einem glücklichen Lächeln. Vorsichtig bewegten wir uns voneinander weg, um nicht in letzter Sekunde durch eine unbedachte Bewegung aus dem Gleichgewicht zu geraten. Schließlich setzten wir uns breitbeinig auf den Ast, verschnauften, klatschten einander auf die Schenkel. Erleichtert, dem Abgrund auf ein Neues entronnen zu sein. Mit niemandem sonst hätte ich mich das getraut. Mit niemandem sonst wäre ich überhaupt auf solche Ideen gekommen.
    Meine Gedanken wandern zurück in unser Kinderzimmer. Moritz steckt noch immer im Bad und schmollt darüber, dass ich ihn angespuckt habe. Auf dem Fensterbrett filtern ein paar Kristalle und Kakteen das Licht. Ein kleines Taschenmesser liegt daneben. Ich betrachte alles sehr genau, als würden die Dinge mir Heimlichkeiten über den Abenteurer im Bad verraten, als wären die Kakteenschatten und

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