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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Gleichen und wundern uns, wo die Einzigartigkeit ist, die uns unsere Lehrer und Eltern beim Blick in den Spiegel verkaufen wollten. Das Untergehen in der Masse ist so einfach, wenn die Unterschiede so gering sind. Deine Rolle, es ist doch egal, ob du oder eins deiner Bühnengeschwister sie heute spielen. Oder morgen. Oder in zwei Wochen. Solange es die Menschheit gibt, wird es immer genug Austauschmaterial geben, deine Rolle doppelt und dreifach zu besetzen. Jeder steckt in jedem. Jeder könnte alles sein. Ich bin jede Frau und jeder Mann. Sogar ein Tier bin ich, eine Pflanze, ein Ding, Feuersalamander, Agave und Bergkristall. Es gibt nichts, was ich so kurz vorm Einschlafen nicht sein könnte.

Violettklänge
    Zu schildern, wie ich Musik höre, ist nicht so einfach. Sie treibt Strukturen durch den Raum, Netze und fließende Bänder, Blasen und Wellen, hochschießende Zapfen und Speere. Ich sehe sie. Es sind Strukturen, denen mein Körper folgt, wenn ich tanze. Ich fühle sie. Musik ist eine greifbare Welt für mich, eine Landschaft hinter den Dingen, in ihr gehen die Sinne ineinander über, ein synästhetisches Wunderland. Hätte ich nicht als Kind gelernt, dass Klänge ohne Geruch und Geschmack sind, hätte ich keine Scheu, sie mit Worten wie zitronig, fade oder süß zu beschreiben.
    Violettklänge sind oft bitter, Orangeklänge haben scharfe Kanten, auch modrige Klangfarben gibt es. Es ist einfach und offensichtlich, und trotzdem kann ich es keinem erklären. Der Bassmann schaut interessiert, ist sich aber sicher, dass Töne farblos sind. Wir packen die Instrumente ein. Der Organisator des Konzerts, ein kahlrasierter Mittdreißiger, lädt uns auf ein paar Snacks und Espresso ein. Die beiden anderen Musiker, die heute Abend gespielt haben, ein Klarinettist und sein stiller Gitarrist, rücken ebenfalls an den kleinen Marmortisch heran. Der Gitarrist hat eine blaue Strähne im Haar. Ich beobachte seine flinken Finger beim Keksetunken. Er scheint jünger zu sein als ich. Der Klarinettist hat eine grelle Stimme und katzengrüne Augen. Wir plaudern, erst Smalltalk, dann Fachsimpelei, und zum Abschied tauschen wir Küsschen und Kontaktadressen aus, die üblichen Rituale.
    »Geht noch jemand tanzen?«
    Außer mir hat keiner Lust. Durch Pfützen, Neonlichtflackern und Menschengruppen bahne ich mir meinen Weg. Schließlich werde ich durch die Flügeltüren des Agua Dulce gesaugt. Ich bin nicht oft hier, die Musik ist mir zu houselastig, die Barmänner zu latino, die Frauen zu gucci.
    Ein paar Tracks tanze ich zwischen den goldenen und silbernen Miniröcken. Ich denke schon ans Gehen, als mich jemand antanzt. Erst sehe ich nur das sandfarbene Hemd, den hellen Ledergürtel, dann erkenne ich Blaum. Nach zwei weiteren Tracks begleite ich ihn nach draußen. Bist mir sowieso lieber als die Trendschnepfen, brummt er und zieht mich an seine Brust. Ich stecke meine Nase tief in seinen Duft, Rasierlotion, Haargel, Rauch.
    Bevor wir in seinen Azaleenpalast gehen, streifen wir noch etwas durch die Stadt. Ich weiß nicht, warum ich Blaum ausgerechnet auf den Hügel schleppen muss, auf dem die Psychiatrie liegt. Ich will die Seerosen einmal bei Nacht sehen, sage ich, und später zerre ich eine Karotte aus den Gemüsebeeten. Ob er auch eine wolle. Du kennst dich hier gut aus, bemerkt Blaum. Über seinen Salzwasseraugen liegt der Schatten eines Kirschbaums. Ich wische die Erde von der süß duftenden Wurzel und sage leise ja. Blaum nickt. Er fragt nicht weiter. Wir nehmen ein Taxi zurück in die Weststadt.
    Es ist gut, jemanden zu haben, an den ich all meine Kraft verschwenden kann, ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Ich muss mich austoben können. Es ist gut, denke ich, eine der kleineren Frauen zu sein und nicht allzu stark. Blaum hält als Boxsack, Kratzbaum, Beißring her. Nach zwei Stunden liegen wir erschöpft nebeneinander auf seinem Parkettboden, Eiche Fischgrät, betont Blaum und schmunzelt. Dann nimmt er mich fest in den Arm.
    »Würdest du mich auch mögen, wenn ich ein Mann wäre?«
    »Du als Mann?« Er zieht das Du effektvoll in die Länge. »Vermutlich würde ich dich nicht leiden können. Vor allem, wenn du mir meine Frauen ausspannst. Du wärst wahrscheinlich von einem Schlag Mann, den ich aufs Blut nicht ausstehen kann. Schönlinge, Künstler, Egozentriker.«
    »Du bist doch selber egozentrisch.«
    »Ja eben.«
    »Vielleicht begegnet dir dieser Mann irgendwann.«
    »Ich würde ihm aus dem Weg gehen.«
    »Und wenn er dir

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