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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Fünfte. In meinen Adern hämmern die Werke anderer Künstler, hämmern stärker als das eigene Blut, ich verliere meine Grenzen, werde weit, weit wie die Luft über der Stadt, will meine Umrisse wieder zusammenkratzen und finde sie nicht. Tanze weiter, als meine Beine längst taub sind. Tanze von Lars zu Lars. Seine sanften Kleinstadtaugen, dein aufmerksamer Rabenblick, Red Russians, Bierflaschen, Peers weiße Hände auf meinen Hüften, es ist alles dasselbe. Borgs Boxerbrust, hässliche Armbanduhren an hässlichen Armen, Saskias Fußfleisch, Sesselleder, Damla, kerzengerade, ein Ausrufezeichen im roten Kleid. Bunte Effektstrahler, Hibiskusblut. Mein Bewusstsein mischt Menschen wie Karten. Bricht an allen Sollstellen. Schleudertanz, Daktylus und Akrobatik an bebenden Stahlseilen. Ich falle. Was mich fängt, sind nur weitere Stahlseile. Reißen mich weiter auf.
    Als ich schließlich auf dem Boden liege, eine Bierflasche rollt mir an den Kopf, starren mich Menschen an. Aufgereiht, nichtssagende Inkognitogesichter baumeln wie Papierlaternen im Wind. Ich erkenne keins davon. Statt zu raten, wer sie sind, schließe ich lieber gleich die Augen.
    Ich erwache in meinem Bett. Es könnte wenige Augenblicke oder ganze Ewigkeiten später sein, mein Zeitgefühl streikt. Eulen, Falken, Möwen, Kormorane, Neuntöter und Eisvögel machen ein Gewölle, tönt es in meinem Kopf, während mein Denken wie durch klebriges Gelee hindurchwatet. Auch ich fühle mich, als müsste ich erst mal einen Klumpen Müll ausspucken, bevor ich wieder atmen kann.
    Ich habe geträumt. Von einer Zirkusschau mitten in der Wüste. Die einzige Nummer, die sie hatten, bestand aus einer hölzernen Wand, die verschiedene Schubfächer hatte. Wenn die Schubfächer geöffnet wurden, kamen Körperteile zum Vorschein, Fußknöchel, Nasen, Geschlechtsteile. In der wechselnden Abfolge der gezeigten Körperteile bestand die einzige Unterhaltung bei dieser Show.
    Neben meinem Bett finde ich eine Mineralwasserflasche. Vielleicht hat Lars sie hingestellt. Borg muss mich die Treppen hochgetragen haben. Ich schäme mich nicht. Im Gegenteil, die Vorstellung, den Brüdern wehrlos vor die Füße gefallen zu sein, erscheint mir tröstlich. Mir fällt kein Ort ein, wo ich sorgloser hätte in Ohnmacht fallen können als zwischen den Boxerbrüdern. Lars muss sich um mich gekümmert haben, mindestens meinen Puls hat er gefühlt. Meine Lippen schmecken herb. Ich stelle versuchsweise einen Fuß auf den Boden, richte mich auf. Die Welt beginnt sich wild zu drehen, sprüht Sternchen, Übelkeit schwappt hoch. Ich lege mich wieder hin. Durch die Ritzen der Rollläden kommt kaum Licht. Noch kann die Sonne nicht aufgegangen sein.
    Ich erwache erneut. Diesmal vom Klingeln des Telefons. Der Ton sickert teelöffelweise durch meine Betrunkenheit. Ich beschließe, dass es besser ist, nicht ans Telefon zu gehen. Ich weiß nicht, ob ich mich auf den Beinen halten könnte. Ich weiß nicht, was ich sagen würde, und vor allem zu wem. Lieber will ich schnell wieder einschlafen. Meine Hand gleitet zwischen meine Beine. Ich knülle einen Bettdeckenhügel unter mich, treibe mich binnen Sekunden in süße Vergessenheit, ein simpler Erstklässlerorgasmus. Muschelsaft, salziges Aroma, Frauenduft, mit einem Finger unter der Nase schlafe ich ein.

Krabbenschwänze
    Im Kindergarten hatte ich eine Freundin, die aussah wie Schneewittchen. Sie kam aus Polen, hatte dunkelbraunes, langes Haar und trug rote oder blaue Kleider. Beim Spielen, wenn die dunklen Härchen auf ihrem Arm meinen Arm berührten, bekam ich eine angenehme Gänsehaut. Allein ihre Stimme, wenn sie monoton ein Gedicht aufsagte oder mir eins ihrer Brettspiele erklärte, genügte manchmal für dieses Kribbeln.
    In meiner Schneewittchenfreundin steckte ein niedliches Stimmchen. Vermutlich hatte sie die ihren Heldinnen aus amerikanischen Tanzfilmen abgelauscht. Moritz fand meine Freundin albern und mied sie, wo er konnte. Außerdem war sie die einzige Person, vor der ich keine Scham hatte, wenn ich onanierte. Manchmal, beim Spielen, warf ich mich hitzig auf die Matratze. Meine Freundin nahm nie besonderen Anstoß daran. Anfangs war ich enttäuscht von ihrem Desinteresse. Dann entzückte mich ihre Ahnungslosigkeit. Mir wurde klar, dass ich etwas konnte, das sie nicht konnte. Dass ich etwas entdeckt hatte, worauf sie nicht im Traum gekommen wäre. Ich fühlte mich stark. Fast als müsste ich sie beschützen.
    Wenn wir spielten, war ohnehin immer ich

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