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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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dass ein Buch, das sich gut anfühlt, wesentlich bessere Chancen hat, dürfte klar sein. Es muss auch gut riechen. Zum Glück riechen die meisten Bücher gut. Anfangs sind da nur die Farben der Buchrücken, ein buntes Teppichmuster, mein Sichtfeld füllend. Ich fokussiere nichts Bestimmtes. Bis sich ein Buch bemerkbar macht. Meine Hand wandert von alleine hin. Vielleicht ist es die Schriftart, vielleicht das gelungene Verhältnis der Buchdicke zur Buchhöhe, vielleicht ein raffinierter Einband. Vielleicht habe ich auch einfach nur festgestellt, dass das Buch hervorragend zu meinem T-Shirt passt. Sollte das Buch gut in der Hand liegen und der Klappentext mich nicht vergraulen, nehme ich eine Nase voll Buch und lese den ersten Satz. Der ist entscheidend. Ist der erste Satz nicht saftig, nicht prall, platzt er nicht und trieft mir beim Hineinbeißen die Lippen voll, ist das Buch für mich gestorben. Hat er nicht die richtige Farbe, welkt kränklich vor sich hin, gibt es keine zweite Chance. Zu viele Kommata, zu viele Eigennamen oder eine Jahreszahl im ersten Satz, das sind Todesurteile für ein Buch.
    Saskia würde mich vermutlich auslachen. Sie nimmt ein hässliches altes Buch aus dem Regal und spielt Daumenkino. Sie äugt verliebt in die vergilbten Seiten und bezahlt. Noch auf der Straße steckt sie ihre Nase in die Seiten. Diese Gedichtsammlung habe früher bei ihren Großeltern auf dem Nachtkästchen gelegen. Als Kind habe sie heimlich darin geblättert, ohne ein Wort zu verstehen. Sie spricht noch weiter, ein Lastwagenfahrer und ein roter Lederkoffer kommen vor, aber sobald ihre Stimme verstummt ist, habe ich die Großelterngeschichte vergessen. Himmel, denke ich, was für ein schlechter Liebhaber ich wäre. Plötzlich bleibt Saskia stehen.
    »Ich bin irgendwo …«, murmelt sie.
    Sie plumpst haltlos auf die Bordsteinkante, nimmt ihren Fuß in die Hand und wird blass. Eine Glasscherbe ragt aus ihrem Fußballen.
    »… reingetreten?«, vervollständige ich ihren Satz.
    Sie nickt. Lässt ihren Fuß los. Für einen Moment liegt die verletzte Sohle wie ein Fremdkörper auf dem Asphalt. Einseitig ist die Wunde nach innen gedrückt, ein unnatürlich weißer Hautfetzen, auf der anderen Seite klafft ein roter Spalt, wie ein Täschchen aus granatfarbener Seide. Es beginnt sich mit Blut zu füllen.
    Saskia will sich die Scherbe nicht sofort herauspflücken. Sie humpelt, nur die Ferse benutzend, bis in ihre kleine Dachwohnung. Ich trage das alte Buch, schließe Türen auf, kicke den Badteppich aus dem Weg. Saskia hinterlässt Blutspuren. Oben angekommen, lässt sie mich an ihre Sohle. Sie hält die Augen geschlossen. Mit spitzen Fingern zupfe ich das Glas aus ihrer Haut, sehe, dass zwei weitere Splitter in der Wunde schwimmen. Saskia versucht, sie in der Dusche herauszuwaschen, vor Schmerz steigen ihr Tränen in die Augen. Die Splitter bleiben stecken. Saskia sinkt zurück auf den Boden.
    »Ich habe keine Pinzette«, wimmert sie.
    Ich beruhige sie, biete ihr an, mit den Fingernägeln auch die kleineren Splitter herauszuziehen. Saskia nickt. Ich wasche meine Hände. Saskia beißt auf die Zähne.
    Als wir die Wunde desinfiziert, die Wundränder, so gut es geht, aneinander gelegt und ihren Fuß verbunden haben, legt sich Saskia aufs Sofa. Sie baut sich einen Kissenberg für ihren Fuß.
    »Ich war so lange nicht mehr barfuß«, ihre Augenbrauen wölben sich zu zwei enttäuschten Bögen, »und dann gleich den Fuß aufgeschnitten. Ich dummer Pechvogel.«
    »Wenn du willst, koche ich was. Musst du nicht aufstehen. Ist irgendwas da?«
    Überm Sofa hängen van Goghs Sonnenblumen, aber ihre gelben Köpfe sind nichts gegen das aufkeimende Strahlen in Saskias Gesicht. Die haselbraunen Brauen entspannen sich, und die Literaturstudentin, die aussieht, als könne sie Hebbels Odaliske zitieren, liegt nun selbst odaliskenhaft da und beschreibt beflissen ihre Essensvorräte. Champignons, Basilikum, Tomaten, Pasta, auch Rotwein bietet sie an. Ich lasse mich dirigieren. Für gewöhnlich werde ich beim Kochen unwillig und ungeduldig, so dass mir nach spätestens fünf Minuten jemand den Kochlöffel aus der Hand nimmt. Unter Saskias Anweisungen jedoch, und ich stelle mich absichtlich dumm, hält meine gute Laune an. Die Studentin muss eine passable Köchin sein, es entsteht tatsächlich etwas Essbares.
    »Du gehst morgen nicht in dein Seminar, oder?«, frage ich, als ich die Teller aus der Kochnische balanciere. Sie nickt. Wir trinken zwei oder

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